säuresequenz«, beschreibt Kelsic. Per maschinellem
Lernen bringt er Computer dazu, die Auswirkungen vor-
herzusagen, wenn einzelne Aminosäuren-Austausche
miteinander kombiniert werden. Sequenzen, die sich dabei
als viel versprechend erweisen, stellt er anschließend im
Labor her und testet sie an Mäusen oder nichtmenschli-
chen Primaten.
Kelsic zeigt sich überzeugt davon, dass ein effizienteres
Einschleusen von genetischem Material zu besseren
Therapien führen wird – auch wenn es um Zielgewebe wie
das Gehirn geht, das sich mit AAV bereits heute recht gut
erreichen lässt. Seiner Meinung nach liegt eine besonders
große Herausforderung darin, Genfähren für Organe wie
die Lunge und die Nieren zu finden, die derzeit schwer zu
behandeln sind.
Gegen Erblindung ist bisher ist nur eine einzige Gen-
therapie verfügbar. Ende 2017 erteilte die US-amerika-
nische Arzneimittelbehörde FDA dem Therapeutikum
Voretigen Neparvovec die Zulassung; es dient zum Behan-
deln von Netzhauterkrankungen infolge einer Mutation
im Gen RPE65. Diese Erbanlage enthält den Bauplan für
ein wichtiges Protein der Netzhaut. Laut Studien ist Voreti-
gen Neparvovec nachweislich wirksam, und Sehbeein-
trächtigungen lassen sich mittels Gentherapie erfolgreich
behandeln. Allerdings gibt es mindestens 200 weitere
Erbanlagen, die in mutierter Form angeborene Augener-
krankungen verursachen können. Wie Vandenberghe
anmerkt, zeigt die Pharmaindustrie bislang wenig Interes-
se daran, spezifische Verfahren für diese Gendefekte zu
entwickeln.
Ein neues Medikament zu finden und in klinischen
Studien zu prüfen, kann viele Millionen Dollar kosten.
Therapien für sehr seltene Erkrankungen zur Marktreife zu
bringen, ist für ein Pharmaunternehmen daher wirtschaft-
lich kaum von Interesse. Dies gilt vor allem im Bereich der
Gentherapie, weil sich die Patienten hier oft mit einer
einzigen Dosis genetischen Materials erfolgreich behan-
deln lassen, statt lebenslang Medikamente einnehmen zu
müssen. Da die Netzhaut zudem ein kleines Organ ist,
fallen die bei erblichen Augenerkrankungen erforderlichen
Mengen an Gentherapeutika winzig aus. Eine einzige
Produktionscharge eines solches Arzneistoffs könnte
genügen, um sämtliche in den USA lebenden Patienten zu
therapieren.
Behandlungsverfahren für sehr seltene Genschäden
Mit einer Anfang 2018 gegründeten Firma geht Vanden-
berghe nun einen anderen Weg: Odylia Therapeutics soll
nicht gewinnorientiert sein und Therapien für äußerst
seltene angeborene Gendefekte entwickeln, die zur Erblin-
dung führen und in den USA höchstens 3000 Menschen
betreffen. Das Unternehmen wird finanziell unterstützt
vom Massachusetts-Eye-and-Ear-Krankenhaus und von
der Usher 2020 Foundation, einer gemeinnützigen Stif-
tung, die Initiativen fördert, um Sehverluste infolge des
Usher-Syndroms zu behandeln. Einer der Stiftungsgrün-
der, Scott Dorfman, hat zwei Kinder, die am Usher-Syn-
drom erkrankt sind, und ist Geschäftsführer von Odylia
Therapeutics.
auf dessen Rückwand neue Farbflächen erscheinen lässt.
»Solche Probleme zu lösen, ist schon bei einem handelsüb-
lichen magischen Würfel nicht trivial«, sagt Vandenberghe,
»und erst recht nicht bei einem mikroskopisch kleinen
Ikosaeder.«
Um mehr darüber zu erfahren, wie Struktur und Funktion
des Viruskapsids miteinander zusammenhängen, beschlos-
sen der Forscher und sein Team, die Evolution der AAV zu
rekonstruieren. Im Jahr 2015 speisten sie die Aminosäure-
sequenzen der Proteine von 75 AAV-Varianten, die aus
menschlichen und tierischen Körpergeweben isoliert wor-
den waren, in ein Computerprogramm ein, das Evolutions-
prozesse simuliert. Der Algorithmus errechnete daraus die
Sequenzen von neun möglichen Vorfahren der heutigen
AAV. Den ältesten dieser hypothetischen Ahnen bezeichne-
ten die Forscher als Anc80. Vandenberghe betont, dass die
tatsächlichen Vorläufer der heutigen Viren möglicherweise
anders aussahen als von der Simulation vorgeschlagen.
Doch darum gehe es gar nicht. »Wichtig war nur, dass
unser Ansatz mögliche Wege aufzeigte, wie wir die Kapsid-
struktur variieren konnten.«
Künstlich erzeugte Viren lassen kaum eine
Haarsinneszelle aus
Das Team stellte die errechneten Vorläuferviren anschlie-
ßend tatsächlich her und experimentierte mit ihnen. Dabei
erwies sich Anc80 als besonders interessant. Als die For-
scher dieses Virus auf Mäuse übertrugen, infizierte es
sämtliche inneren und fast alle äußeren Haarsinneszellen
des Innenohrs, was zuvor bei keinem anderen AAV beob-
achtet worden war. Im Jahr 2017 setzten Vandenberghe
und seine Kollegen das Anc80-Virus ein, um bei Labormäu-
sen einen angeborenen Gendefekt zu behandeln, der bei
menschlichen Patienten zum Usher-Syndrom mit Taub- und
Blindheit führt (siehe »Gentherapie gegen Hörschäden« ab
S. 12). Die Forscher waren von den Möglichkeiten ihrer
neuen Genfähre begeistert und gründeten in Boston das
Unternehmen Akouos, um Therapien für Menschen mit
genetisch bedingtem Hörverlust zu entwickeln.
Verschiedene weitere Firmen setzen Anc80 ebenfalls als
Genfähre ein und entwickeln Behandlungsmethoden damit,
darunter Selecta Biosciences in Watertown (Massachu-
setts), Vivet Therapeutics in Paris und Lonza in Basel.
Schon 2011, noch vor den Arbeiten mit Anc80, hatte Van-
denberghe in Paris die Firma GenSight Biologics mit ge-
gründet, um Therapien für seltene erbliche Netzhauterkran-
kungen zu entwickeln. Zurzeit betreibt GenSight Biologics
klinische Studien mit zwei einschlägigen Arzneistoffen.
Bessere Genfähren zu entwickeln, sei der Schlüssel
dazu, die Gentherapie voranzutreiben. Das betont Eric
Kelsic, Systembiologe an der Harvard University. Kelsic
sucht nach Wegen, Kapside von Viren gezielt zu verändern
und an bestimmte Anforderungen anzupassen. In Compu-
tersimulationen tauscht er systematisch jede Aminosäure in
der Proteinsequenz eines AAV gegen jede einzelne der
übrigen 19 Aminosäuren aus, die als Proteinbausteine
dienen – und beobachtet jeweils, wie sich das auf die
Kapsidstruktur auswirkt. »Auf diese Weise ermitteln wir die
Effekte sämtlicher möglicher Veränderungen in der Amino-