A
ngenommen, Sie sind zum Essen eingeladen,
und da es Ihnen wunderbar schmeckt, bitten
Sie um das Rezept. Doch als Sie die Speise
selbst zubereiten, ist sie ungenießbar. Da
fragen Sie sich: Habe ich beim Kochen etwas falsch
gemacht, oder ist das Rezept fehlerhaft? Fortwährend
sind wir mit Überraschungen konfrontiert, deren
Ursache nicht auf der Hand liegt. In der Regel glauben
wir erst an einen Zufall und versuchen das Nächstlie-
gende: Der Koch wiederholt das Rezept. Erst wenn die
Misserfolge nicht enden, sehen wir ein, dass etwas
prinzipiell nicht stimmt.
Wie kommt das Gehirn von Tieren und Menschen
zu der – mitunter lebenswichtigen – Erkenntnis, wel-
che Ursache sich hinter einem unerwarteten Ereignis
verbirgt? Sind für diese kognitive Leistung spezielle
Areale zuständig, und wie arbeiten sie zusammen?
Die Frage haben die Hirnforscher Mehrdad Jaza yeri
und Morteza Sarafyazd vom Massachusetts Insti tute
of Technology an Primaten untersucht. Sie konfrontier-
ten Makaken mit Abfolgen von Lichtreizen und brach-
ten den Tieren durch kleine Belohnungen bei, je nach
der zeitlichen Abfolge der Farbpunkte mit Hin- oder
Wegsehen zu reagieren. Letzteres garantierte, dass
mehr zu Stande kam als ein bloßer Reiz-Reaktions-
Automatismus (Science 364, eaav8911, 2019).
Nachdem die Makaken gelernt hatten, eine be-
stimmte Reizabfolge mit entsprechenden Blickbewe-
gungen zu quittieren, drehten die Forscher den Rhyth-
mus der Farbblitze um. Jetzt bildeten diese eine neue,
wiederum regelmäßige Abfolge. Die Tiere standen nun
vor dem Dilemma, darin bloß eine zufällige, vorüber-
gehende Störung zu sehen – oder die systematische
Änderung zu erkennen. Tatsächlich dauerte es nur
kurz, bis den Primaten diese Erkenntnis gelang und sie
auf das neue System wiederum mit entsprechend
angepassten Augenbewegungen antworteten.
Was ging dabei in den Versuchstieren vor? Wäh-
rend der modifizierten Blickversuche ließ sich eine
besonders hohe Aktivität in zwei Regionen des Vorder-
hirns feststellen: im dorsomedialen frontalen Kortex
(DMFC) und im knapp darunterliegenden anterioren
zingulären Kortex (ACC). Diese Gebiete waren von
vornherein »verdächtig« – sie sind auf Handlungskon-
trolle, kognitive Prozesse und strategische Entschei-
dungen spezialisiert.
D
er Clou der Studie ist aber der Nachweis einer
hierarchischen Zusammenarbeit beider Regio-
nen. Die Information über die neue Reizfolge
landet nämlich zunächst »außen« beim DMFC
und wird dort nur als Überraschung registriert, als
enttäuschte Erwartung. In dieser Phase kann noch
nicht entschieden werden, ob es sich um eine vorüber-
gehende Störung handelt, auf die man am besten mit
»business as usual« reagiert, oder um etwas grundle-
gend Neues, das kognitive Verarbeitung und geänder-
tes Verhalten erfordert.
Die Entscheidung darüber fällt »innen« im ACC,
der als Informationspuffer wirkt und auf die neue
Nachricht verzögert reagiert. Erst wenn hier erkannt
wird, dass sich etwas dauerhaft verändert hat, kann
sich das Individuum an die neue Situation anpassen.
Die derart hierarchisch organisierte Kognition des
Primatengehirns scheint also eines der Geheimnisse
jener höheren Erkenntnisleistungen zu sein, die ihm
vorderhand kein künstliches neuronales Netz nachzu-
machen vermag.
SPRINGERS EINWÜRFE
HIERARCHIEN IM HIRN
Um sich einen Reim auf Überraschungen zu
machen, müssen separate Gruppen von
Gehirnzellen einander gestaffelt zuarbeiten.
Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine
neue Sammlung seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel
»Lauter Überraschungen. Was die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.
spektrum.de/artikel/1647836
Wie registriert das Gehirn,
was für eine Ursache sich
hinter einem unerwarteten
Ereignis verbirgt?