Spektrum der Wissenschaft - 07.2019

(Jeff_L) #1
Ein kleiner Irrtum am Anfang
wird am Ende ein großer
Giordano Bruno (1548–1600)

SCHLICHTING!


GEFÄHRLICHE SCHRÄGLAGE


Ist ein Sandhaufen zu steil, rutschen Teile von ihm ab. Doch was
passiert mit größeren Objekten auf dem Hang? Ob sie am
kritischen Winkel stabil liegen oder ins Gleiten geraten, hängt
davon ab, wie stark sie den Untergrund deformieren.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität Münster.
Seit 2009 schreibt er für Spektrum über physikalische Alltagsphänomene.

 spektrum.de/artikel/1647846




Ein wachsender Sandhaufen wird ab einer bestimm-
ten Neigung nicht mehr steiler. Vielmehr stellt sich
ein charakteristischer Schüttwinkel ein, indem oben
aufgetürmter Sand gelegentlich in Lawinen niedergeht.
Sie flachen den Haufen ab, so dass darauf wieder Sand-
körner liegen bleiben können, bis der kritische Winkel
erneut überschritten wird. In der nichtlinearen Physik
spricht man bei solchen Phänomenen von selbstorgani-
sierter Kritikalität.
Es hängt zwar von zufälligen Störungen ab, wann
genau ein Abgang ausgelöst wird. Trotzdem ist der
Prozess nicht ganz wahllos, sondern die Verteilung der
Lawinen folgt einem Potenzgesetz – große kommen
seltener, kleinere viel häufiger vor. Derartige Skalengeset-
ze gibt es überall in Natur und Alltag. Sie beschreiben so
verschiedene Phänomene wie die Verteilung der Einwoh-
nerzahl deutscher Städte oder die Ausmaße von Mond-
kratern.

Die Larven von Ameisen-
löwen bauen Sandtrichter, in
denen sie auf Beute lauern.
Damit schlägt das Insekt
auch im übertragenen Sinn
mehrere Fliegen mit einer
Klappe: In seinem dauerhaft
trockenen, oft wüstenartigen
Lebensraum ist es durch den
Schatten der sonnenabge-
wandten Hangseite vor Hitze
und Austrocknung geschützt.

H. JOACHIM SCHLICHTING

Versucht man einen solchen Haufen zu besteigen, etwa
auf der lockeren Leeseite aktiver Sanddünen, ist das eine
sportliche Herausforderung: Mit jedem Schritt nach oben
gleitet man auf einer kleinen Lawine wieder ein Stück
zurück. Weil ein Mensch aber dank seines Körpergewichts
zugleich in den Sand einsinkt, bildet sich nach der kurzen
Rutschpartie an den Füßen ein Wall mit einer unterkriti-
schen Neigung. Darauf kann sich der Wanderer abdrü-
cken, um etwas höher zu kommen.
Ein winziges Insekt hat es da einfacher. Es krabbelt den
Hang hinauf, ohne dass viel passiert. Hier und da rieseln
ein paar Körnchen herab, aber es kommt voran. Doch wie
ergeht es größeren Insekten, die den kritisch angewinkel-
ten Untergrund stark genug stören und eine Lawine
auslösen?
Die Antwort liefert die Larve des Ameisenlöwen. Das
Insekt bedient sich dieses Phänomens bei der Jagd. Dazu
baut es einen Trichter und bringt dessen schräge Wände
immer wieder in den verhängnisvollen Winkelbereich
(siehe Foto unten). Ameisen, Käfer, Spinnen und andere
Kleintiere haben just die richtige Masse. Wenn sie auf die
inneren Flanken geraten und sie dadurch überkritisch
machen, lösen sie einen Hangrutsch aus. Darauf gleiten
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