Spektrum der Wissenschaft - 07.2019

(Jeff_L) #1

sie dann hinab – der am unteren Ende halb vergraben
lauernden Larve entgegen.
Das Tierchen muss dazu einen perfekten Trichter mit
genau der grenzwertigen Neigung bauen, ohne selbst
ständig abzurutschen und das schöne Werk zu beschädi-
gen. Die Lösung des Problems ist ebenso einfach wie
trickreich. Zunächst treibt die Larve in einer Art rückwär-
tiger Schiebetechnik einen groben Krater im unterkriti-
schen Neigungsbereich in den sandigen Grund. Darauf-
hin schleudert sie von der Mitte aus lockeren Sand nach
oben. Solange der kritische Winkel noch nicht erreicht ist,
bleibt er liegen. Sobald er überschritten wird, rutscht das
Baumaterial ab.


Vom tierischen Instinkt zur wissenschaftlichen
Analyse
Kommen der Larve im zeitlichen Mittel genauso viele
Sandkörner wieder entgegen, wie sie hochkatapultiert, ist
ihr Werk vollendet. Die gleiche Technik wendet die Larve
an, wenn ein Beutetier zu entkommen droht. Dann wirft
sie dem Fliehenden einige Sandladungen hinterher,
wodurch die Wand überkritisch wird und es kein Halten
mehr gibt.
Das Beispiel des Ameisenlöwen zeigt, dass die Natur
die selbstorganisierte Kritikalität schon lange genutzt hat,
bevor die Physiker sie entdeckt haben. Inzwischen hat
sich auch eine französische Forschergruppe des interes-
santen Phänomens angenommen. Sie ist in einer 2017
publizierten Arbeit allgemein der Frage nachgegangen,
wie sich gleitende Gegenstände auf einer Flanke aus
granularer Materie verhalten.
Dabei entzieht sich der körnige Feststoff im kritischen
Winkelbereich einer deterministischen Beschreibung –
ein- und dasselbe Objekt kann unter sonst gleichen
Bedingungen sowohl in Bewegung geraten als auch zur
Ruhe kommen. Kleinste Störungen geben den Ausschlag.
Daher lassen sich die Vorgänge nur mit Wahrscheinlich-
keiten auf Basis zahlreicher Experimente beschreiben.
Als schiefe Ebene benutzten die Forscher einen
Schütthaufen aus winzigen Glaskügelchen. Darauf setz-


ten sie kleine Pappscheiben mit Metallgewichten und
untersuchten, wie sich die Gleiter unter verschiedenen
Bedingungen verhalten. Die Wissenschaftler haben dabei
den Druck variiert, also den Quotienten aus Gewichtskraft
und Auflagefläche der Scheiben. Ein wesentliches Ergeb-
nis der Untersuchung: Die Gleiter bewegten sich nur in
einem kleinen Bereich unterschiedlicher Drücke den
ganzen Hang hinab. Zu schwere und zu leichte Scheiben
blieben liegen oder stoppten nach kurzer Strecke.
Ursache für dieses Verhalten ist die mehr oder weniger
starke Verformung des granularen Untergrunds. Das lässt
sich mit Hausmitteln einfach qualitativ nachvollziehen,
etwa mit einem Sandhaufen und einem kleinen, flachen
Plastikdeckel sowie mehreren Unterlegscheiben als
potenzielle Zusatzlasten (siehe Bilder oben). Solange
wenig Gewicht auf dem Gleiter lastet, bleibt er ruhig
liegen. Wenn jedoch der Druck, also die Kraft pro Fläche,
ein kritisches Maß überschreitet, bewegt er sich hangab-
wärts und hinterlässt eine feine Spur im Sand. Sie wird
bei größerem Gewicht aber so tief, dass der Deckel einen
wachsenden Wall vor sich herschiebt, der ihn nach kurzer
Strecke ausbremst. Die Gleitfähigkeit eines gegebenen
Gleiters hängt im Bereich des kritischen Winkels also
hauptsächlich von der Gewichtskraft ab.
Diese Ergebnisse geben Aufschluss über das Verhalten
von Lebewesen auf sandigem Untergrund. Sie erklären
die Erfahrungen von Menschen, die sich an der kritischen
Wand einer Düne abmühen, ebenso wie die erfolgreiche
Strategie der Larve des Ameisenlöwen. Sowohl zu leichte
wie auch zu schwere Tiere kann sie damit nicht fangen.
Laut der Untersuchungen der Wissenschaftler haben
Tiere unterhalb eines Körpergewichts von zwei Milli-
gramm nichts zu befürchten, ebenso wenig solche mit
mehr als fünf Milligramm. Aber auf beide hat es die Larve
auch gar nicht abgesehen. Die einen lohnen den Aufwand
nicht, und die anderen sind als Beute zu groß. 

QUELLE
Crassous, J. et al.: Pressure-dependent friction on granular
slopes close to avalanche. Physical Review Letters 119, 2017

H. JOACHIM SCHLICHTING

Auf einer im kritischen Winkel geneig-
ten Sandfläche bleibt ein Plastikdeckel
liegen (links). Mit einer Unterlegscheibe
belastet sinkt er etwas ein und gleitet
den Hang hinab (Mitte). Bei mehreren
Scheiben rutscht er tief in den Sand und
stoppt nach kurzer Strecke (rechts).

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