Spektrum der Wissenschaft - 07.2019

(Jeff_L) #1
Hormonen und Tumorerkrankungen gewusst. »Nach Millio-
nen intensiver Forschungsstunden der gelehrtesten Män-
ner, der raffiniertesten biologischen Apparate und Messme-
thoden« erahnten Ärzte allmählich, »was Hildegards himm-
lisches Medizinprogramm an tiefgründigster Kenntnis über
Gesundheit und Krankheit enthält«. Freilich entsprach eine
solche Wertschätzung hildegardscher Erkenntnisse durch
die moderne Medizin nur Hertzkas Wunschdenken.
Gleichwohl ist die Nonne in der Alternativmedizin und
in esoterisch interessierten Kreisen sehr populär. Im Buch-
handel tummeln sich Ratgeber in Sachen Naturapotheke,
Gärtnern, Kochen, Fasten, Kindererziehung und Psychothe-
rapie. Der von ihr angeblich propagierte Dinkel bereichert
die Produktpalette der Bäckereien.
Im Rückblick erwies sich die Äbtissin somit einerseits als
Segen für die Erforschung der Klostermedizin, warf ihre
Person doch ein strahlendes Licht auf das angeblich finste-
re Mittelalter. Andererseits hat die Hildegard-Medizin wenig
mit Hildegards Werken zu tun. Lipinksa unterließ es, ihre
Zuschreibungen durch Verweise auf Textstellen zu belegen,
Herztka ignorierte die in den 1950er Jahren von Schipper-
ges und Peter Riethe, Emeritus der Universität Tübingen,
erstmals vorgelegte Gesamtausgabe der überlieferten
Schriften – vermutlich, da beide deren göttlichen Ursprung
nicht zur Grundlage ihrer Arbeit gemacht hatten.
Wichtiger war ihnen die Überlieferungsgeschichte. Denn
anders als ihre theologischen Werke sind Hildgards heil-
kundliche Texte wie auch die naturkundliche »Physica«
nicht in Originalen, sondern nur in lange nach ihrem Tod
entstandenen Kopien, Auszügen und Zitaten erhalten. Die
verschiedenen Fassungen unterscheiden sich, zudem ist die
Übersetzung keineswegs trivial, da Hildegard zwar latei-
nisch schrieb, für Pflanzen und Erkrankungen aber sehr oft
mittelhochdeutsche Bezeichnungen verwendete.
Hertzka, durch ein mystisches Erweckungserlebnis
motiviert, unterließ die kritische Analyse und übersetzte
bedenkenlos die ihm zur Verfügung stehenden lateinischen
Texte. Dabei nahm er sich verblüffende Freiheiten. War von

»pediculi«, also Läusen die Rede, meinte die Äbtissin seines
Erachtens nach meist »virusartige Kleinstlebewesen, wel-
che beim Aktivwerden das Krebs-Agens ausmachen«.
Inzwischen liegen wissenschaftliche Rekonstruktionen der
natur- und heilkundlichen Schriften sowie deutsche Über-
setzungen zur weiteren Analyse vor. Nach wie vor sind viele
Fragen offen. Doch schon jetzt erweisen sich etliche Vor-
stellungen der Hildegard-Szene als Missverständnisse, wenn
nicht sogar als regelrechte Erfindungen, die von einem
Autor zum nächsten tradiert wurden.
So sprach die Nonne den in der Hildegard-Medizin so
gelobten Dinkel nur in der »Physica« kurz an: »Dinkel ist
das beste Getreide, und er ist warm, fetthaltig, reichhaltig
und wohlschmeckender als anderes Getreide.« Das ein-
zige authentische Rezept dazu lautet: »Wenn jemand so
schwach ist, dass er vor Schwäche nicht essen kann, dann
nimm ganze Dinkelkörner, koch sie in Wasser und füge
Schmalz oder Eidotter hinzu, so dass sie wegen des besse-
ren Geschmacks gern gegessen werden können; gib das
dem Kranken auf diese Weise zu essen, und es heilt ihn
innerlich wie eine gute und gesunde Salbe.«

Fasten »nach Hildegard-Art« ist eine Erfindung
Wie dieses dienten auch andere Rezepte aus ihren Werken
stets der Gesundung. Weder verfasste die Nonne Koch-
re zepte noch empfahl sie bestimmte Tees, Suppen oder
Dinkelgerichte. Anleitungen zum richtigen Fasten wider-
sprechen sogar ihrer Mahnung, beim Essen nicht »übermä-

AUF EINEN BLICK
DER MÖNCH ALS ARZT

1


Mit der Teilung des Römischen Reichs drohte im Wes-
ten das Wissen griechischer Ärzte verloren zu gehen.
Übersetzungen ins Lateinische haben im 5. und 6. Jahr-
hundert zumindest einiges davon bewahrt.

2


Dieses Wissen wurde jahrhundertelang ausschließlich
in Klöstern tradiert und zum Wohl von Patienten einge-
setzt. Erst ab dem 11. Jahrhundert entwickelte sich eine
medizinische Ausbildung an Hochschulen.

3


Einen Schwerpunkt der Klostermedizin bildete die
Heilpflanzenlehre. Autoren entsprechender Schriften
stützten sich auf antikes Wissen oder – wie beispiels-
weise Hildegard von Bingen – auf eigene Erkenntnisse.

In den Visionen Hildegards erschien die Welt als Kunst-
werk Gottes. Das »Liber Divinorum Operum« illus-
trierte die komplexen Zusammenhänge zwischen den
Sphären.

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