ßig enthaltsam zu sein«. Tatsächlich bedeutete Fasten in
jener Zeit, sich nur einmal am Tag satt zu essen, und zwar
laut einer in den meisten Klöstern gültigen Regel am späten
Nachmittag vor Sonnenuntergang.
Im Blick heutiger Forscher erweist sich die Bingener
Äbtissin fraglos als faszinierende Persönlichkeit, dabei aber
als ein Kind ihrer Zeit und allenfalls als Endpunkt einer
Entwicklung, die sieben Jahrhunderte zuvor ihren Anfang
genommen hatte. 493 übernahm der Ostgotenkönig Theo-
derich die Überreste des Weströmischen Reichs. Ganz in
der antiken Herrschertradition lud er Gelehrte wie Boethius
(480/85–524/26) und Cassiodor (um 485– um 580) an
seinen Hof in Ravenna ein. Beide machten dem frühmittel-
alterlichen Europa Wissen der Antike zugänglich: Boethius
übersetzte Werke griechischer »Forscher« ins Lateinische,
Cassiodor verfasste auf der Grundlage antiker Wissen-
schaften eigene Schriften. Er gründete zudem um 554 das
Kloster Vivarium als Stätte der Gelehrsamkeit. Dessen
Mönche mussten nicht nur die Werke der Kirchenväter
studieren, sondern auch solche von Philosophen, außerdem
Abhandlungen über Gartenbau und Medizin.
Vor allem Benedikt von Nursia (um 480–547 ) aber ist es
zu verdanken, dass antike Bücher Eingang in die Klosterbib-
liotheken fanden. Um 529 gründete er mit einigen Anhän-
gern eine Abtei auf dem Monte Cassino, etwa 140 Kilome-
ter südlich von Rom, und verfasste dafür die nach ihm
benannten Benediktinerregeln (»Regula Benedicti«). Eine
von ihnen lautete: »Die Sorge für die Kranken muss vor und
über allem stehen. Man soll ihnen so dienen, als wären sie
wirklich Christus.« Zudem legte er fest: »Die kranken Brüder
sollen einen eigenen Raum haben und einen Pfleger, der
Gott fürchtet und ihnen sorgfältig und eifrig dient.« Um
diesem Auftrag nachzukommen, bedurfte es heilkundlicher
Schriften.
Zu den Epigonen Cassiodors und Benedikts zählt der
Bischof Isidor von Sevilla (um 560–636), einer der meistge-
lesenen Autoren des Mittelalters. Für seine 20 Bücher
umfassende Enzyklopädie »Etymologiae« trug er das noch
verfügbare Schrifttum der Antike zusammen. Das waren in
medizinischen Dingen Texte lateinischer Autoren des
1. Jahrhunderts n. Chr. wie Aulus Cornelius Celsus und
Plinius der Ältere ebenso wie Schriften der spätantiken
Ärzte Caelius Aurelianus und Theodorus Priscianus. Zudem
zitierte Isidor – vermittelt durch frühere Autoren – aus dem
»Corpus Hippocraticum«. Dabei handelt es sich um eine
maßgeblich in Alexandria kompilierte Sammlung von
mehreren Dutzend medizinischen Texten, die vermutlich
zwischen dem 6. Jahrhundert v. Chr. und dem 2. Jahrhun-
dert n. Chr. geschrieben wurden. Trotz des Namens stamm-
ten wohl die wenigsten von dem berühmten griechischen
Arzt Hippokrates selbst. Einige beschrieben Krankheitsver-
Der für das Kloster St. Gallen entwickelte Grundriss
setzte Standards. Zu den funktionalen Einheiten gehörte
auch ein Garten für Gemüse und Kräuter (Pfeil).
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