Spektrum der Wissenschaft - 07.2019

(Jeff_L) #1

Schatzkammer der Klostermedizin


Das »Lorscher Arzneibuch« ist das älteste erhaltene
Werk der mittelalterlichen Klostermedizin.


Nicht weniger als 75 beidseitig be-
schriebene Blätter aus Pergament –
es war eine Sensation, als der Pio-
nier der Medizingeschichte Karl
Sudhoff 1913 ein bis dahin kaum
bekanntes Buch in die heutige
Schrift übertrug und veröffentlichte.
Es erwies sich als die älteste erhal-
tene medizinische Publikation aus
dem heutigen Deutschland. Sie
diente Mönchen als Lehrkompen-
dium zur medizinischen Schulung
und als Nachschlagewerk mit
praktischen Ratschlägen.
Der Würzburger Medizinhistori-
ker Ulrich Stoll legte 1989 eine
kommentierte Gesamtausgabe mit
deutscher Übersetzung im Rahmen
seiner Promotion vor. Gemeinsam
mit seinem Doktorvater Gundolf
Keil taufte er das Dokument »Lor-
scher Arzneibuch«. Es bietet faszi-
nierende Einblicke in die Kloster-
medizin zur Zeit Karls des Großen
(747/48–814). Der namentlich nicht
genannte Autor des Arzneibuchs
hatte dafür reichlich und mit spür-
barer Begeisterung aus den Quellen
vorchristlicher Medizin geschöpft.
Doch dabei musste er sich einer
grundlegenden theologischen
Frage stellen: Wie vertragen sich
eigentlich die ärztlichen Praktiken
mit dem Christentum?
Gemäß der Bibel besitzen Krank-
heiten prinzipiell zwei Funktionen:
Gott kann mit ihnen die Glaubens-
stärke eines Christen prüfen, aber
auch Sünder bestrafen. Demgemäß
müsste ein Patient seine Krankheit
akzeptieren und so Gottes Willen
respektieren. Dann aber wäre jede
therapeutische Maßnahme ein
Eingriff in den göttlichen Plan. Das
Vorwort des Arzneibuchs rechtfer-
tigte die ärztliche Tätigkeit jedoch
mit dem christlichen Gebot der
Nächstenliebe.
Herzstück des Arzneibuchs
waren 482 Rezepte für Tränke,


Salben und Öle. Auch die Lagerung
von Heilmitteln wurde thematisiert.
Einige Verfahren waren besonders
innovativ. Der Therapie eines Unter-
schenkelgeschwürs beispielsweise
diente ein frühes Antibiotikum:
Schimmeliger Käse wurde so lange
auf Schafdung gelegt, bis Pinsel-
schimmel (Penicillium) gedieh. Den
vermengte man mit Honig und trug
ihn auf die Wunde auf. Bei »offenen
Füßen« – gemeint waren wohl
Ödeme – sollte ein Gemisch aus der
im Mittelmeerraum verbreiteten
Meerzwiebel sowie Minze, Honig
und Essig helfen, gegen leichte
psychische Befindlichkeitsstörun-
gen Johanniskraut.
Die heute in der Staatsbibliothek
Bamberg lagernde Handschrift
enthält eine Seite, die vermutlich
nachträglich eingefügt wurde. Der
Text stammte von Bischof Leo von
Vercelli († 1026), dem engsten
Vertrauten Kaiser Ottos III. Die dort
enthaltenen Angaben helfen, die
Überlieferungsgeschichte des
Arzneibuchs zu verstehen. Dem-
nach besaß zeitweise Kaiser Otto
das Werk, dann sein Nachfolger
Heinrich II., der es der Dombiblio-
thek Bamberg schenkte. 1803
gelangte es dort in die Kurfürstliche
Bibliothek.
Da Otto in Italien residierte,
plädierte Karl Sudhoff 1913 für
einen italienischen Ursprung des
Arzneibuchs. 1974 nahm sich
Bernhard Bischoff, Emeritus für
Lateinische Philologie des Mittelal-
ters in München, des Problems an.
Er wies anhand eines Schriftver-
gleichs nach, dass das Werk im
Kloster Lorsch entstand, einer 764
gegründeten Benediktinerabtei im
heutigen Südhessen. Laut Gundolf
Keil könnte es sich bei dem Autor
um Richbod gehandelt haben.
Jener war zwischen 784 und 804
Abt in Lorsch und pflegte gute

Kontakte zu Gelehrten am Hof Karls
des Großen. Strittig ist bis heute
die genaue Entstehungszeit, da die
Handschrift kein Datum trägt.
Während Keil von »um 788« aus-
ging, sprach sich Bischoff für
Anfang des 9. Jahrhunderts aus.
Von Daniel Carlo Pangerl

QUELLEN
Bischoff, B.: Die Abtei Lorsch im
Spiegel ihrer Handschriften. Lauris-
sa, 1989
Fischer, K.-D.: Das Lorscher Arznei-
buch im Widerstreit der Meinungen.
Medizinhistorisches Journal 45, 2010
Stoll, U.: Das »Lorscher Arzneibuch«.
Ein medizinisches Kompendium des


  1. Jahrhunderts (Codex Bambergen-
    sis medicinalis 1). Text, Übersetzung
    und Fachglossar. Steiner, 1992


482 Rezepturen enthält die als
»Lorscher Arzneibuch« weltbe-
rühmte Handschrift, die seit 2013
als Weltkulturerbe gilt.

STAATSBIBLIOTHEK BAMBERG / GERALD RAAB (BIBLIOTHECA-LAURESHAMENSIS-DIGITAL.DE/VIEW/ SBBAM_MSCMED1/0066/IMAGE) / CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)
Free download pdf