entwickelt hatten. Selbst Hautgeschwüre, verursacht von
den als Leishmanien bezeichneten Parasiten, vermag das
Heilmittel zu bekämpfen, wie Alvaro Acosta-Serrano und
Lee Haines von der Liverpool School of Tropical Medicine
zeigten. Leishmanien, die auch innere Organe mit dann
tödlichen Folgen befallen können, werden unter anderem
von Sandflöhen übertragen. Die leben zwar ursprünglich in
den Tropen, kommen jedoch im Zuge des Klimawandels
inzwischen beispielsweise sogar in Deutschland vor.
Wie beim »Lorscher Arzneibuch« lassen sich im »Bald’s
Leechbook« ebenfalls antike römische und griechische
Quellen aufspüren. Das Werk dokumentiert zudem eine ma-
gische Volksmedizin: Es enthält christianisierte Zauberfor-
meln, die auf heidnischen Vorläufern beruhen.
Das meistgelesene Kräuterbuch dieser Epoche war das
Lehrgedicht »Macer floridus«, das in fast 1000 Handschrif-
ten überliefert wurde. Es zu übersetzen, gehörte zu den
ersten Aufgaben der 1999 an der Universität Würzburg
gegründeten Forschergruppe Klostermedizin, durchgeführt
von Johannes Mayer und dem Altphilologen Konrad Goehl.
Lange galt der antike römische Dichter Aemilius Macer
als Urheber, daher die Bezeichnung des Werks. Verfasst
hatte es jedoch im 11. Jahrhundert der Mönch Odo Magdu-
nensis aus Meung an der Loire, wie in einigen Handschrif-
ten vermerkt ist. Er bezog sich unter anderem auf den
»Hortulus«, den er aber auch kritisierte, weil dieser Lieb-
stöckel als schädlich für die Augen bewertete. Vor allem
griff Odo auf antike Schriften zurück, insbesondere von
Dioskurides, Galen und Plinius dem Älteren, den er wegen
der Verwendung von Eisenkraut allerdings der Zauberei
bezichtigte.
Ab dem 11. Jahrhundert profitierte die Klostermedizin
auch von ersten Übersetzungen arabischsprachiger Medi-
zinbücher. Beispielsweise erweiterte Odo von Meung sein
Werk in einer zweiten Fassung von 60 auf 77 Pflanzen,
wobei die neu hinzugekommenen Kapitel fast ausschließ-
lich die Heilwirkungen von Gewürzpflanzen aus Asien
beschrieben. Dafür nutzte er den »Liber graduum« des
Constantinus Africanus, eines aus Nordafrika stammenden
Gelehrten, der in der als Schule von Salerno bekannten
ersten medizinischen Bildungseinrichtung lehrte und dort
arabische Texte ins Lateinische übertrug.
Ysop – gut für den Magen,
hilfreich bei Totgeburten
Schriften dieser Bildungseinrichtung waren in ganz West-
europa verbreitet und machten weiteres griechisches, aber
auch arabisches Medizinwissen verfügbar. Das lässt sich
beispielsweise im »Innsbrucker (Prüller) Kräuterbuch«
nachweisen. Wahrscheinlich stellte im frühen 12. Jahrhun-
dert ein bayerischer Klerikerarzt es als erstes von vorn-
herein deutschsprachiges Werk zum Thema zusammen.
Beispielsweise verriet er über den Ysop, eine im Mittelmeer-
raum in der Heilkunde gern genutzte Pflanze: »Wenn die
Geburt im Weibe stirbt, trinke Ysop mit warmem Wasser,
so löst sich das tote Kind von ihr. Es hilft auch denjenigen,
welchen der Magen schwärt.«
Auch Hildegard von Bingen dürfte Lehren aus Salerno
gekannt haben. Zu ähnlich sind einige Stellen ihrer »Physi-
ca« zu thematisch entsprechenden Texten, wie Irmgard
Müller und die französische Hildegard-Forscherin Laurence
Moulinier von der Université de Lyon 2 sowie unsere Würz-
burger Gruppe nachgewiesen haben. Ob ihre natur- und
heilkundlichen Schriften von Visionen inspiriert waren, ist
unter Forschern umstritten, da entsprechende Hinweise der
Äbtissin weitgehend fehlen. Vermutlich betrachtete sie die
heilsamen Wirkungen zahlreicher Pflanzen im Kontext der
göttlichen Schöpfung als Geschenk an den Menschen.
Gleichzeitig aber bewegte sich die Nonne im Rahmen der
damaligen Medizintheorie. Das zeigt sich unter anderem da-
ran, wie einfach es Autoren des Mittelalters fiel, Passagen
ihres Werks zu übernehmen. So zitierte der »Gart der
Gesundheit« (1485) einzelne Textstellen nicht nur aus dem
»Macer«, sondern auch aus der »Physica«. Im »Kochbuch
Meister Eberharts«, das in einer Handschrift aus dem
15. Jahrhundert erhalten ist, wird man ebenfalls fündig. Der
Küchenchef des Herzogs Heinrich von Landshut entnahm
der »Physica« Ratschläge zu 33 Lebensmitteln: ob diese für
Kranke geeignet seien, ob man sie roh, gekocht oder gebra-
ten verzehren solle und gegebenenfalls nur bestimmte Teile
davon.
Indem Forscher die Leistungen Hildegards von Bingen in
das richtige Licht rücken, machen sie auch Geistesgrößen
wie Odo von Meung wieder sichtbar. Dessen »Macer« über-
lebte den Niedergang der Klostermedizin, den die Grün-
dung von Universitäten im 11. Jahrhundert mit sich brachte.
Es gab kaum eine bedeutende Bibliothek, die keine Kopie
davon führte. Der »Macer« wurde aus dem Lateinischen in
viele Sprachen übersetzt, 1477 in Neapel erstmals gedruckt.
Der an einer Hochschule ausgebildete Mediziner Johann
Wonnecke von Kaub übernahm bald darauf Textpassagen
für seinen »Gart der Gesundheit«, der dem 1557 erstmals,
1783 letztmals aufgelegten »Kräuterbuch« des Frankfurter
Stadtarztes Adam Lonitzer zu Grunde lag. Auf diesen
verschlungenen Wegen gelangten Passagen des »Macer«
im 18. Jahrhundert in das »Grosse vollständige Universal-
Lexicon aller Wissenschaften und Künste« des Verlegers
Johann Heinrich Zedler. Sogar in Nachschlagewerken des
20. Jahrhunderts lassen sich seine Spuren finden – ein
überraschend langer Nachklang für ein Jahrtausend der
Stagnation.
QUELLEN
Brück, A. (Hg.): Hildegard von Bingen 1179–1979. Festschrift
zum 800. Todestag der Heiligen. Gesellschaft für mittelrheini-
sche Kirchengeschichte, 1979
Mayer, J. G., Goehl, K.: Höhepunkte der Klostermedizin: Der
»Macer floridus« und das Herbarium des Vitus Auslasser.
Reprint-Verlag, 2001
Mayer, J. G., Niedenthal, T.: Hildegard – ein Mythos? Deutsche
Heilpraktiker-Zeitschrift 13, 2018
Mayer, J. G.: Klostermedizin als Teil der TEM. In: Steinmetz et
al.: TEM – Traditionelle Europäische Medizin. 28. Band der
Schriftenreihe der GAMED – Wiener Internationale Akademie
für Ganzheitsmedizin (noch nicht erschienen)
Niedenthal, T. et al.: Eine 1000 Jahre alte Rezeptur gegen
multiresistente Keime. Zeitschrift für Phytotherapie 37, 2016