Spektrum der Wissenschaft - 07.2019

(Jeff_L) #1

nach außen immer weiterwächst, im Inneren aber unver-
ändert bleibt. So kann man unendlich große Parkettierun-
gen erzeugen, ohne je in eine Sackgasse zu geraten.
Unter Umständen ist der Prozess sogar umkehrbar
(»Deflation«). Man fasst dazu gewisse Gruppen von Stei-
nen zu jeweils einem Superstein zusammen (dass es diese
Gruppen gibt, folgt aus den Anlegeregeln), verkleinert das
entstehende Parkett derart, dass die Supersteine wieder
Normalgröße haben, und wiederholt diese Aktionen, bis
am Ende nur noch ein Stein übrig bleibt. Diese Herange-
hensweise ist zwar alles andere als konstruktiv, aber sie
erlaubt Rückschlüsse auf die Eigenschaften, die das Par-
kett vor dem Eindampfen haben musste.
Das Substitutionsverfahren erlaubt gewisse Variationen.
So sind die goldenen Dreiecke des Penrose-Parketts zwar
spiegelsymmetrisch, aber ihre Binnenstruktur, die in den
Anlegeregeln zum Ausdruck kommt, ist es nicht. Es gibt
also »rechte« und »linke« goldene Dreiecke (siehe Bild d,
S. 82 links). Da kann sich ein Künstler die Freiheit nehmen,
sie unterschiedlich zu behandeln. Die einfachste Möglich-
keit besteht darin, beim Spiegeln Schwarz und Weiß zu
vertauschen oder allgemeiner eine Farbe durch die andere
zu ersetzen. Oder wenn von zwei einander kreuzenden
Linien in einem Dreieck die eine zuoberst liegt, dann ist es
in dessen Spiegelbild die andere.
Der Österreicher Kurt Bruckner, der in Schaffhausen
(Schweiz) lebt, ist ebenso wie Uli Gaenshirt eigentlich
Bildhauer, hat sich aber in den letzten Jahren zunehmend
auf künstlerische Arbeiten mit Penrose-Pflasterungen
verlegt. Mit seinen speziellen Substitutionsverfahren erzielt
er eindrucksvolle Effekte (siehe http://www.kurtbruckner.ch)..)
Ob die Künstler, die im Mittelalter die komplizierten
islamischen Flechtwerkmuster in Stein meißelten oder aus
Kacheln zusammensetzten, eine Theorie der Substitution
für Penrose-Parkette hatten? Paul Steinhardt und Peter Lu
von der Harvard University hatten das 2007 auf Grund
einer Analyse derartiger Muster vermutet (siehe Spektrum
September 2007, S. 14). Wie dem auch sei: Der Nürnberger


Künstler Uli Gaenshirt hat die Rauten der Penrose-Pflaste-
rung so dekoriert, dass sie einem historischen Flechtwerk
sehr nahekommen (siehe Bild, S. 83 oben).
Für ein anderes, einem persischen Flechtwerk (Girih)
nachempfundenes Muster hat Gaenshirt die Penrose-Rauten
bis fast zur Unkenntlichkeit deformiert (siehe Bild, S. 83
unten). Zentrales Element dieses Bilds ist das so genannte
Wagenrad, ein Zehneck aus fünf dünnen und fünf dicken
Rauten, das in der Theorie der Penrose-Pflasterungen eine
zentrale Rolle spielt (siehe Bild oben links).
Durch wiederholte Substitution mit Inflation entsteht aus
dem Wagenrad eine Parkettierung, die ihrerseits unendlich
viele Wagenräder enthält (siehe Bilder oben Mitte und
rechts). Über seine künstlerische Arbeit hinaus hat Gaens-
hirt ein Mittel gefunden, diese Parkettierung nicht nur über
Substitution, sondern durch Einhaltung von Anlege regeln
zu erzeugen. Allerdings muss der Fliesenleger sehr kompli-
zierte Mittel anwenden, um sicherzugehen, dass der soeben
probeweise gelegte Stein tatsächlich richtig liegt. 

QUELLEN
Fang, F. et al.: Methods for calculating empires in quasicrystals.
Crystals 7, 2017
Gaenshirt, U., Willsch, M.: The local controlled growth of a
perfect Cartwheel-type tiling called the quasiperiodic succession.
Philosophical Magazine 87, 2007
Senechal, M.: The Mysterious Mr. Ammann. The Mathematical
Intelligencer 26, September 2004
Steurer, W., Arlitt, S.: Kurt Bruckner’s view on the Penrose tiling.
Structural Chemistry, Juni 2016 10.1007/s11224-016-0790-1

LITERATURTIPP
Grünbaum, B., Shephard, G. C.: Tilings and patterns. Freeman,
1987
Kapitel 10 »Aperiodic Tilings« gibt die erste vollständige Theorie
der Penrose-Pflasterungen.

Das »Wagenrad« besteht aus fünf dicken und fünf
dünnen Rauten, die sich in einer speziellen, wenig
symmetrischen Anordnung zu einem regelmäßigen
Zehneck fügen. Das Zehneck (schwarz), das zu den
Ammann-Linien in der zentralen Raute (blassblau)
passt, findet sich vergrößert in den Ammann-Linien
der anderen Komponenten (gelb) wieder.


Aus dem zentralen Wagenrad (dunkle Farben) erwächst durch wieder-
holte Substitution und Inflation ein Parkett beliebiger Größe. Wenn man
die vom Zentrum nach außen verlaufenden »Würmer« (linkes Bild, volle
Farben) um die eigene Achse dreht, bleiben alle Anlegeregeln erfüllt;
insbesondere sind diese Positionen nicht durch das zentrale Wagenrad
erzwungen. Neben dem zentralen Wagenrad entstehen unweigerlich
viele weitere; das rechte Bild zeigt davon eine kleine Auswahl.

CHRISTOPH PÖPPE CHRISTOPH PÖPPE
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