Spektrum der Wissenschaft - 07.2019

(Jeff_L) #1

Sobald die Sprache im heutigen Sinn da ist, setzt eine
ungeheure Beschleunigung der Entwicklung ein, die sich
auch im archäologischen Befund wiederfindet. Die kurze
Meldung im Aprilheft »Vom Großwild- zum Affenjäger«
(S. 9) erzählt ja genau die Geschichte von der Möglichkeit
der kulturell bestimmten Wahl des Habitats und der Nische
und damit auch die des Erfolgs unserer Art. Was sie von
den anderen unterschied, war die Macht der Kultur, die
durch keine Kreuzung erklärbar ist. Vor diesem Hintergrund
wäre es vielleicht sinnvoller, die Spekulationen über Linien-
musterartefakte nicht so stark zu bewerten und einmal zu
versuchen, die Kulturgeschichte der unterschiedlichen
Gruppen der Menschheit auf ihr Innovationstempo hin zu
untersuchen. Der Beginn der gerichteten zweiseitigen
Kommunikation mit dem neuen Medium Sprache, das zu
einem Denken führt, das gleichzeitig abstrakt und gemein-
sam ist, sollte am in evolutionären Maßstäben relativ plötz-
lich erhöhten Innovationstempo erkennbar sein. Das ist der
Punkt, an dem der Mensch vernünftig wurde.


Alexander Braidt, München: Ein zentraler Fehler der
Spektrum-Serie war schon bei Kevin Laland, Thomas Sudden-
dorf und Christine Kenneally auffällig: Alle hantieren unbe-
darft mit dem Begriff Homo sapiens, ohne einwandfrei
darzulegen, was den Menschen wesentlich zum Menschen
macht und ab wann diese Eigenschaft auszumachen ist.
Kate Wong, die eine neue Theorie der multiregionalen
Evolution in Afrika vorstellen will, setzt diese Fehler fort und
überträgt sie auch noch auf die Analyseergebnisse alter
DNA durch deren Missinterpretation. Ihr zufolge entstünde
Homo sapiens bereits vor 500 000 Jahren bei der Abspal-
tung vom mit dem Neandertaler gemeinsamen Vorfahren.
Angeblich optimierte sich dieser frühe Homo sapiens rein
graduell durch Kreuzung bis zum Gesamtpaket des moder-
nen Menschen vor 40 000 Jahren.
Da die evolutionäre Anthropologie keine präzise Bestim-
mung dessen erarbeitet hat, was aus Homininen Homo
sapiens macht – sie nimmt unerklärte Einzelsymptome wie
verschachteltes Denken (Suddendorf) für das Entscheiden-
de –, gerät sie stets in Versuchung, durch kleine, kumulative
Schritte kooperativer Erfahrung von menschenähnlichen
Vorfahren der Gattung Homo fließend zu Homo sapiens ge-
langen zu wollen. Alle ihre Vertreter in dieser Spektrum-Serie
übertragen dabei in unzulässiger Weise das typisch
menschliche Prinzip kultureller Entwicklung auf den primär
biologischen Evolutionsprozess hin zum Menschen, der nur
Mutation und Selektion kennt – keinesfalls eine Weitergabe
erworbener kognitiver Eigenschaften.
Während der etwa zwei Millionen Jahre dauernden Evo-
lution der Gattung hin zu Homo sapiens verdoppelte sich
das Gehirnvolumen verschiedenster Homo-Varianten in etwa.
Gleichzeitig optimierte sich die Faustkeilkultur des Acheu-
léen kaum. Wie lässt sich diese grundlegende Tatsache mit
angehäufter Vererbung erworbener Erfahrung und verbes-
sertem geistigem Austausch (ebenfalls Suddendorf) erklä-
ren? Und noch paradoxer: Nach zirka 100 000 v. Chr. evol-
viert das Gehirn von Homo sapiens nicht mehr – denn welt -


weit zeigen Ethnien, die seit Jahrzehntausenden getrennt
blieben, das gleiche kulturelle Potenzial; dennoch macht
von da an der Mensch – bisher belegt ab 80 000 v. Chr. –
beschleunigt eine kulturelle Entwicklung durch.
Im Maiheft will uns Spektrum durch Michael Tomasello mit
der gleichen inkonsistenten Theorie zur Anthropogenese in
Gestalt der kulturellen Weitergabe abspeisen. Wäre es nicht
an der Zeit, anderen gewichtigen Stimmen Gehör zu ver-
schaffen, die zu Recht auf den erkennbaren, qualitativen
Sprung hinweisen, durch den erst Homo sapiens sich kund-
tut? Ein qualitativer Sprung, der grundlegend das Prinzip
biologischer Evolution von dem Prinzip kultureller Entwick-
lung trennt. Nur solch konträre Stimmen ermöglichen eine
Debatte, die Licht ins Dunkel bringt.
Kate Wong verstärkt jedenfalls dieses Dunkel nur, statt
es zu erhellen, indem sie graduell einen frühen Homo
sapiens von 500 000 v. Chr. bis zum echten Homo sapiens
um 40 000 v. Chr. evolvieren lässt. So gesehen zählten die
Aborigines nicht zum modernen Menschen. Auf diese
Spekulation eines fließenden Übergangs kann allerdings
nur jemand kommen, der die nachweisliche Trennscheide
zwischen Gattung Homo und Homo sapiens ignoriert, weil
er nie verstanden hat, was den modernen Menschen ganz
allgemein ausmacht.

Joachim Bodesheim, per E-Mail: Seit dem ersten Heft
und über 40 Jahren Abo lese ich Spektrum der Wissenschaft.
Seit einiger Zeit fällt mir auf, dass die guten alten Vorfahren,
die »Hominiden«, zu »Homininen« geworden sind. Mich
würde es interessieren, wann und aus welchem Anlass
diese »Geschlechtsumwandlung« stattgefunden hat.

Antwort der Redaktion:
Die frühere Bezeichnung »Hominiden« für die Vorfahren des
Menschen gilt inzwischen als veraltet, da auf Grund der
engen Verwandtschaft hierzu auch die Großen Menschen-
affen Gorillas, Orang-Utans und Schimpansen zählen.
Zusammen bilden sie die Familie Hominidae der Säugetier-
ordnung Primates. Hierin enthalten ist die Tribus Hominini,
welche die Gattung Homo sowie die ausgestorbenen
Vor- und Frühmenschen umfasst.

ERRATUM


»Das Wackeln und Zittern der Moleküle«, Spektrum Mai
2019, S. 40

Im Kasten »Molekülspezifische Vorlieben« (S. 44) fehlt beim
dargestellten Naturstoff Miltiradien und seiner Vorstufe (in
der Grafik blau gezeichnete Moleküle) eine Methylgruppe.
Korrekt sieht Miltiradien so aus:
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