Spektrum der Wissenschaft - 08.2019

(Ron) #1

Spektrum der Wissenschaft 8.19 13


Seit nunmehr 50 Jahren suchen Physiker erfolglos
nach einer Quantentheorie der Schwerkraft, die
beispielsweise Aufschluss über den Urknall oder die
Natur Schwarzer Löcher geben könnte.

SHULZ / GETTY IMAGES / ISTOCK


AUF EINEN BLICK
DIE SCHWERKRAFT BLEIBT,
WIE SIE IST!

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Die meisten Physiker gehen davon aus, dass man
die Schwerkraft und die Quantenphysik nur durch eine
Theorie der Quantengravitation vereinigen kann.

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Die vielversprechendsten Versuche, etwa die Schleifen-
quantengravitation und die Stringtheorie, haben bisher
nicht zu zufrieden stellenden Ergebnissen geführt.

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Ein anderer Weg ist die semiklassische Gravitation, bei
der die Schwerkraft ihren altbekannten Charakter
behält. Ein erstes Modell zeigt jetzt, wie ein solcher
Ansatz funktioniert.


Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden zwei
Theorien, die unser Weltbild völlig auf den Kopf gestellt
haben: die Quantenphysik, die das seltsame Verhalten
mikroskopischer Teilchen beschreibt, und die allgemeine
Relativitätstheorie, bei der es um die Raumzeit und die
dadurch entstehende Schwerkraft geht. Von der kleinsten
bis zur größten Skala revolutionierten diese beiden Ideen
unsere Vorstellung vom Universum: dass Objekte sich mal
wie ein Teilchen, mal wie eine Welle verhalten und dass
Raum und Zeit keinesfalls starr sind, sondern sich verän-
dern können.
Allerdings sind die zwei Konzepte nicht miteinander
kompatibel. Seit ihrer Entdeckung suchen Physiker nach
einer fundamentalen Theorie, die beide zusammenführt.
Eine Lösung ist noch nicht in Sicht. Aber ist eine Ver-
schmelzung überhaupt notwendig? Und wenn ja, ist eine
Theorie der Quantengravitation die einzige Möglichkeit,
das zu erreichen? Einige Wissenschaftler – darunter auch
ich – gehen inzwischen einen anderen Weg. Wir versuchen
beide Welten in Einklang zu bringen, ohne eine Quanten-
theorie der Schwerkraft zu entwickeln.
Dafür müssen wir die Grundlagen der Quantenphysik
überdenken. Diese in den 1920er Jahren unter anderem von
Niels Bohr, Louis de Broglie, Werner Heisenberg, Erwin
Schrödinger und Paul Dirac begründete Disziplin führte in
der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zur so genannten

Quantenfeldtheorie. Durch sie konnten die Physiker drei der
vier fundamentalen Kräfte zu einem stimmigen Ganzen
verbinden: dem Standardmodell der Teilchenphysik. Es
beschreibt zuverlässig den Elektromagnetismus sowie die
starke und die schwache Wechselwirkung.
Doch die Gravitation bleibt außen vor. Sie scheint völlig
anderen Gesetzmäßigkeiten zu folgen. In der allgemeinen
Relativitätstheorie, die Albert Einstein 1915 einführte, wech-
selwirken Materie und Raumzeit zu dem, was wir als
Schwerkraft wahrnehmen: Materie und Energie krümmen
die Raumzeit, und das beeinflusst wiederum die Bewegung
der Teilchen.
Da beide Konzepte bisher unvereint blieben, greifen
Physiker je nach Problem auf jeweils eine der beiden Theo-
rien zurück. Interessieren sie sich für Situationen, in denen
die Schwerkraft deutlich stärker wirkt als die elektromagne-
tische Kraft oder die zwei Kernkräfte, wie es in der Kosmo-
logie meist der Fall ist, dann nutzen sie die allgemeine
Relativitätstheorie. Möchten sie hingegen die heftigen
Zusammenstöße von Partikeln in Teilchenbeschleunigern
beschreiben, können sie die Gravitation außer Acht lassen
und sich ganz auf die Gesetze der Quantenphysik konzent-
rieren. In beiden Fällen haben Wissenschaftler inzwischen
erstaunliche Fortschritte gemacht und wichtige Erkenntnis-
se gewonnen.
Weil die Gravitation nur bei extrem massiven Objekten
eine Rolle spielt, während Quanteneffekte dort vernachläs-
sigbar sind, gibt es kaum Situationen, in denen man eine
vereinheitlichte Theorie braucht. Daher fehlen experimentel-
le Ergebnisse, die uns sagen, was unter solchen Umstän-
den vor sich geht.

Spektrum der Wissenschaft 8.19 13

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