Spektrum der Wissenschaft - 08.2019

(Ron) #1
Quantenphysik verbindet und dabei die klassische Beschrei-
bung der Schwerkraft beibehält, diese aber auf mikroskopi-
sche Teilchen ausdehnt. Diesen Ansatz bezeichnet man als
semiklassische Gravitation.
Natürlich widerspricht die Idee dem wissenschaftlichen
Ästhetikempfinden, weil sich die Schwerkraft dadurch
weiterhin von allen anderen Wechselwirkungen unterschei-
den würde. Doch warum sollte das Universum unserem
Sinn von Schönheit entsprechen (siehe Spektrum November
2018, S. 14)?
In einer semiklassischen Theorie bestimmt die ge-
krümmte Raumzeit, wie sich die den quantenphysikalischen
Gesetzen folgende Materie bewegt, während die Teilchen
gleichzeitig die Raumzeit verformen. In dieser doppelten
Dynamik ist es einfach, die Gleichungen der Quantenphysik
so anzupassen, dass die Materie einer vorgegebenen
Krümmung folgt. Das haben Forscher wie Bill Unruh,
Stephen Hawking, Roger Penrose und Robert Wald schon
in den 1970er Jahren getan. Ihre Berechnungen sind zwar
recht aufwändig, sie konnten jedoch beispielsweise ultra-
kalte Atome im Gravitationsfeld der Erde beschreiben oder
die experimentell bisher noch nicht nachgewiesene Strah-
lung von Schwarzen Löchern (»Hawking-Strahlung«) vor-
hersagen.

Seltsame quantenphysikalische Eigenschaften werfen
Fragen für die Schwerkraft auf
Umgekehrt haben Wissenschaftler keine Ahnung, wie
Quantensysteme die Raumzeit krümmen, also gravitativ
wirken. Das liegt vor allem an einer Besonderheit der Quan-
tenphysik, die es in der klassischen Welt nicht gibt: das
Prinzip der Überlagerung. Solange man die Eigenschaften
eines mikroskopischen Objekts (etwa Ort, Geschwindigkeit
oder Energie) nicht misst, kann es in mehreren Zuständen
gleichzeitig existieren. Aber wie soll man die gravitative
Masse eines Teilchens bestimmen, wenn man dessen
genauen Zustand nicht kennt? Solche Fragen lässt die
Quantenphysik unbeantwortet. Selbst nach mehr als
90 Jahren ist die Theorie eine Art Blackbox. Man kann zwar
Wahrscheinlichkeiten dafür berechnen, wie ein Experiment
ausgeht, doch man erfährt nicht, was dabei wirklich pas-
siert.
Um das zu verdeutlichen, überlegte sich Schrödinger ein
berühmtes Gedankenexperiment (siehe Bild S. 16). Er be-
schrieb eine Katze, die zusammen mit einem instabilen
Atomkern in einer Box eingesperrt ist. Zerfällt der Kern,
wird Giftgas freigesetzt, das die Katze tötet. Solange die
Box geschlossen ist, kann sich das Atom im überlagerten
Zustand »zerfallen« und »nichtzerfallen« befinden. Das
würde bedeuten, dass die Katze gewissermaßen sowohl tot
als auch lebendig wäre. Aber kann sich ein makroskopi-
sches Objekt wie eine Katze überhaupt in einem überlager-
ten Zustand befinden? Öffnet man die Box, um das zu
überprüfen, kommt das einer Messung gleich, und die
Katze wäre entweder eindeutig tot oder lebendig.
Angesichts der unbefriedigenden Situation haben etliche
Physiker (siehe Spektrum Dezember 2018, S. 20) zahlreiche
Interpretationen der Quantenmechanik entwickelt, die
solche Ungewissheiten klären sollen (siehe »Wie interpre-

Forscher haben nicht einmal Formeln, mit denen sie rech-
nen könnten. Zudem ist sie übermäßig flexibel; sie lässt sich
so anpassen, dass aus ihr fast jede Vorhersage folgt. Daher
ist sie kaum widerlegbar.
Andere Versuche, eine Quantengravitationstheorie zu
formulieren, stecken ebenfalls in der Klemme. Das hat
einige Physiker dazu ermutigt, einen neuen Weg einzu-
schlagen. Vielleicht lässt sich die Schwerkraft ja so schwer
quantisieren, weil sie sich wirklich grundlegend von den
drei anderen fundamentalen Kräften unterscheidet. Tat-
sächlich gibt es kein Prinzip, das besagt, dass die Gravitati-
on quantisiert sein muss. Man könnte eine Theorie entwi-
ckeln, welche die allgemeine Relativitätstheorie mit der


Kurz erklärt:
Kanonische Quantisierung

Die Quantenmechanik unterscheidet sich insofern
von der klassischen Physik, als viele beobachtbare
Größen keine kontinuierlichen Werte besitzen,
sondern bloß »gequantelt« auftreten, das heißt, sie
ändern sich ruckartig. Ein Beispiel für eine solche
Größe ist die Energie oder der Impuls eines Teil-
chens.
Möchte man eine physikalische Theorie wie
die klassische Mechanik in die Quantenmechanik
überführen, muss man sie »quantisieren«. Dazu
verändert man sie derart, dass die entsprechenden
Messwerte nicht mehr kontinuierlich sind. Das
kann man auf mehrere Weisen erreichen.
Die wohl einfachste Methode ist die 1927 von
Paul Dirac eingeführte »kanonische Quantisie-
rung«. Dabei behält man die grobe Struktur der
klassischen Mechanik bei. Die so genannte Hamil-
tonfunktion, aus der die zeitliche Entwicklung des
Orts und der Geschwindigkeit eines Teilchens
folgen, taucht beispielsweise auch in der Quanten-
mechanik auf.
Allerdings wird die Funktion dort zu einem so
genannten Operator. Die übrigen Beziehungen
zwischen den physikalischen Größen, die man aus
der klassischen Mechanik kennt, bleiben genauso
bestehen. Diese Größen muss man aber ebenfalls
durch Operatoren ersetzen. Eine Folge davon ist,
dass der Impuls oder die Energie der Quantensys-
teme dann quantisierte Werte annehmen.
In der kanonischen Quantisierung wird also der
mathematische Unterbau der physikalischen
Theorie gewechselt, während die physikalischen
Zusammenhänge erhalten bleiben: Im klassischen
Bild spielen kontinuierliche Variablen und deren
Ableitungen eine Rolle, während in der Quanten-
mechanik Operatoren und komplexe Zahlen, die
Wurzeln aus negativen Zahlen enthalten, aufeinan-
dertreffen.
Free download pdf