Spektrum der Wissenschaft - 08.2019

(Ron) #1

Die Milliarden Blitze und dadurch entstehenden »Gravita-
tionsschübe« in einem solchen makroskopischen Objekt
erwecken unserem Modell zufolge den Eindruck, dass sich
ein Gravitationsfeld kontinuierlich bewegt. Dennoch hätte
eine ruckartige Schwerkraft Folgen, die sich im Labor
testen ließen. Zum Beispiel erhöht jeder Blitz die kinetische
Energie eines Teilchens. Den geringen Energieanstieg
könnte man etwa in ultrakalten Atomen beobachten, die
sich dadurch langsam erwärmen würden. Allerdings gehe
ich davon aus, dass künftige Experimente unser Modell
widerlegen werden – schließlich führt es im relativistischen
Bereich zu falschen Vorhersagen und spiegelt daher nicht
unsere Wirklichkeit wider.
Dennoch stellt unsere Arbeit einen bedeutenden Schritt
dar. Durch sie haben wir nämlich erstmals bewiesen, dass
es durchaus möglich ist, eine hybride Theorie aus klassi-
scher Gravitation und Quantenphysik zu konstruieren, was
viele Wissenschaftler bisher bezweifelten. In Zukunft könn-
te man versuchen, unseren Ansatz derart zu verändern,
dass er realistischere Vorhersagen liefert. Möglichkeiten
dazu gibt es reichlich: Beispielsweise könnte jeder Blitz
räumlich ausgedehnt sein oder über längere Zeit fortbeste-
hen. Diese Flexibilität könnte jedoch auch eine Schwäche
sein. Wenn sich jedes experimentelle Ergebnis durch eine
kleine Änderung des Modells erklären lässt, verliert der
Ansatz seinen vorhersagenden Charakter. Während das


ursprüngliche Problem also darin bestand, überhaupt ein
konsistentes semiklassisches Gravitationsmodell zu finden,
besteht nun die Gefahr, dass es wie bei der Stringtheorie zu
viele Lösungen gibt.
In den 1980er Jahren dachten Physiker, dass die Frage,
ob die Schwerkraft quantenmechanischer oder klassischer
Natur sei, sich nur mit Stift und Papier beantworten lasse.
In naher Zukunft könnte sie sich aber in Laboren entschei-
den. Am überraschendsten wäre es, wenn die Gravitation
tatsächlich keinen quantenphysikalischen Charakter hätte.
Das würde der Intuition der meisten Physiker zuwiderlaufen
und zudem viele ihrer Anstrengungen der letzten 60 Jahre
zunichtemachen. Wenn die Gravitation andererseits doch
quantisiert ist, wird die Suche nach einer vereinheitlichten
Theorie umso wichtiger. 

QUELLEN
Bose, S. et al.: A spin entanglement witness for quantum
gravity. Physical Review Letters 119, 2017
Gisin, N.: Stochastic quantum dynamics and relativity. Helvetica
Physica Acta 62, 1989
Kafri, D. et al.: A classical channel model for gravitational
decoherence. New Journal of Physics 16, 2014
Tilloy, A.: Ghirardi-Rimini-Weber model with massive flashes.
Physical Review D 97, 2018

Viele-Welten-Theorie
Der US-Amerikaner Hugh Everett
entwickelte 1956 die Viele-Welten-
Theorie (siehe Spektrum April 2008,
S. 24). Ihr zufolge sind überlagerte
Zustände real und existieren gleich-
zeitig: So trennt sich beispielsweise
bei jeder Messung von Schrödingers
Katze ein Universum, in dem sie lebt,
von einem anderen, in dem sie tot
ist. Der deutsche Physiker Dieter Zeh
fand 1970 heraus, dass dieser Ansatz
mit unserem Eindruck vereinbar ist,
in bloß einem einzigen Universum zu
leben. Denn sobald sich zwei Univer-
sen ausreichend unterscheiden,
können sie ihm zufolge nicht mehr
miteinander wechselwirken.


Bohmsche Mechanik
Die 1952 vom US-amerikanischen
Physiker David Bohm eingeführte
bohmsche Mechanik (siehe Spektrum
Juli 1994, S. 70), dessen Idee von
einer Arbeit des Franzosen Louis de
Broglie aus dem Jahr 1927 stammt,
beschreibt eine Welt aus Punktteil-
chen, die deterministisch von ihrer


Wellenfunktion geleitet werden. 1993
stellten die Physiker Detlef Dürr,
Sheldon Goldstein und Nino Zanghi
fest, dass die empirischen Vorher-
sagen der bohmschen Mechanik mit
denen des orthodoxen Kopenhage-
ner Ansatzes übereinstimmen.

Spontane Lokalisierung
Spontane Lokalisierungsmodelle
verändern die Gesetze der Quanten-
mechanik leicht, um makroskopische
Überlagerungen unmöglich zu ma-
chen. Der Preis dafür ist eine winzige
Änderung der quantenphysikalischen
Vorhersagen, die noch nicht beob-
achtet wurden. Im Modell von Gian-
carlo Ghirardi, Alberto Rimini und
Tullio Weber (GRW) von 1986 ist
diese Änderung eine kollabierende
Wellenfunktion. Ein solches Ereignis
soll extrem selten und zufällig an
irgendeinem Punkt im Raum stattfin-
den. Der Kollaps der Wellenfunktion,
der in der Kopenhagener Deutung
bloß durch eine Messung hervor-
gerufen werden kann, erfolgt dabei
auf natürliche Weise.

QBismus
2001 entwickelten Carlton Caves,
Christopher Fuchs und Rüdiger
Schack die Theorie des »QBismus«
(siehe Spektrum November 2013,
S. 46): Die quantenmechanische
Wellenfunktion dient dabei bloß als
mathematisches Werkzeug, das
die Erwartungen eines Beobachters
an das untersuchte Quantensystem
widerspiegelt.
Eine solche rein statistische
Betrachtung ist zwar attraktiv, aber
nicht mit den Ergebnissen der bell-
schen Ungleichungen vereinbar,
denen zufolge die Quantenphysik
nichtlokal ist. Um solche Widersprü-
che zu vermeiden, muss man auf den
Begriff der objektiven Realität ver-
zichten. Dadurch sind experimentelle
Ergebnisse subjektiv – sie hängen
vom Beobachter ab. Für Fuchs ist die
Wirklichkeit partizipativ: geschaffen
von und für den Betrachter. Im
QBismus muss man akzeptieren, wie
es David Mermin ausdrückt, »dass
der Mond nachweislich nicht da ist,
wenn man nicht hinsieht«.
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