FORSCHUNG AKTUELL
hungsweise Ar–B(OH) 2 ), an vielen
Substraten nicht sehr selektiv. Auf der
anderen Seite gibt es zwar höchst
selektive C–HFunktionalisierungsreak
tionen, diese können aber meist nur
Gruppen anbauen, die synthetisch von
geringem Wert sind. Sie eignen sich
also nur wenig für weitere Reaktions
schritte.
Unsere Forschungsgruppe hat nun
eine Reaktion entwickelt, die sowohl
hochgradig selektiv verläuft als auch
eine synthetisch wertvolle funktionelle
Gruppe einführt: Die »Thianthrenie
rung« erzeugt am aromatischen Ring
einen Thianthrenyl oder Tetrafluoro
thianthrenylrest (im Bild rechts grün
hervorgehoben). Sie verläuft sehr
selektiv, und zwar stets in derjenigen
Position, in der die Elektronendichte
am höchsten ist.
Kein chemischer Dirigent nötig
Das ist bemerkenswert, denn für die
Unterscheidung, welche Position
besetzt wird, benötigt man in der
Regel einen chemischen Dirigenten –
ein Anhängsel am aromatischen Ring.
Dieser beeinflusst, an welcher Stelle
das reagierende Molekül andockt,
indem er die Elektronendichte im Ring
verschiebt oder durch seine schiere
Größe bestimmte Positionen unzu
gänglich macht. Ausgehend von der
dirigierenden Gruppe unterscheiden
Chemiker im Aromaten die ortho,
meta und paraPosition (Bild unten).
Bei aromatischen Verbindungen, die
als einziges Anhängsel eine Elek tronen
schiebende Gruppe besitzen, setzt sich
die Thianthrenylgruppe bevorzugt an
die dieser gegenüberliegende, die so
genannte paraPosition. Um die Se
lektivität unserer Reaktion an einem
einfachen Beispiel zu testen, haben wir
die Thianthrenierung von Ethylbenzol
(Bild unten) untersucht. Es sind nur
wenige Reaktionen bekannt, die an
diesem oder ähnlichen Aromaten sehr
selektiv ablaufen, da die Ethylgruppe
keinen großen Einfluss darauf nimmt,
an welcher Stelle die Reaktion stattfin
det – sie ist also eher ein schlechter
Dirigent. Dennoch erfolgte die Thian
threnierung fast ausschließlich in
paraStellung, und zwar 200mal so
schnell wie in meta und 500mal so
schnell wie in orthoPosi tion.
Mit einer derart selektiven Reaktion
kann man eine Vielzahl an komplexen
Verbindungen, die über mehrere
reaktive Positionen verfügen, sehr
gezielt um funktionelle Gruppen
erweitern. Das Spektrum reicht von
elektronenreichen Aromaten wie
Dimethoxybenzol bis zu elektronen
armen wie Chlorbenzol. Wir haben
Thianthreniumsalze aus insgesamt
15 Pharmawirkstoffen, Agrochemika
lien und Naturstoffen beziehungsweise
deren Abwandlungen (so genannten
Derivaten) erzeugt – ein Beleg dafür,
dass auch komplizierte Stoffe umge
setzt werden können. Der Trick liegt
darin, dass die Thianthrenylgruppe
zum einen die elektronenreichste
Position stark bevorzugt und zum
anderen positiv geladen ist: Das Zu
sammenspiel dieser Effekte deaktiviert
gewissermaßen den Rest des Mole
küls. Ist die Gruppe einmal eingeführt,
reagieren die anderen potenziell reakti
ven C–HBindungen quasi nicht mehr
und bleiben erhalten.
Die Thianthrenylgruppe kann in
mehreren Folgereaktionen durch viele
synthetisch interessante chemische
Bausteine ausgetauscht werden.
Dadurch ist es möglich, zahlreiche
Derivate komplexer Moleküle schnell
herzustellen. Besonders gut eignet sie
sich für zwei Typen von Folgereaktio
nen, die PalladiumKatalyse und die
FotoredoxKatalyse – beides Reak
tionstypen, die eine große Zahl funk
tioneller Gruppen einführen können
(Bild rechts).
Eine wichtige Sorte palladiumkata
lysierter Reaktionen sind beispiels
weise die so genannten Kreuzkupplun
gen. Mit ihrer Hilfe sind Chemiker in
der Lage, auch KohlenstoffKohlen
stoffBindungen direkt zu knüpfen –
sie sind daher inzwischen als entschei
dender Schritt in der chemischen und
pharmazeutischen Industrie weit ver
breitet. 2010 erhielten ihre Entwickler
den ChemieNobelpreis (siehe Spektrum
Dezember 2010, S. 18). In diesen Reak
tionen verhält sich der Thianthrenylrest
ähnlich wie die bisher eingesetzten
Halogene, wie zum Beispiel Bromid.
Viele bekannte Reaktionen (wie Suzuki
Kupplung, SonogashiraKupplung,
NegishiKupplung oder HeckReak
tion) können daher mit Thianthrenium
salzen unter Bedingungen durchge
führt werden, die denen für die Um
wandlung mittels Arylbromiden, also
Molekülen mit einem Bromatom am
aromatischen Ring ähneln. Das ist
daher praktisch, weil man die thian
threnierten Moleküle häufig unter
bereits bekannten Bedingungen rea
gieren lassen kann und sich Wissen
Die Thianthrenierung verläuft hoch
gradig selektiv: Aus Ethylbenzol und
TetrafluorothianthrenSOxid entsteht
quasi ausschließlich das para-substi
tuierte Produkt (Mitte). Das so herge
stellte Thianthreniumsalz ist in einer
Vielzahl weiterer Reaktionen aktiv (rote
und blaue Pfeile). Auf diese Weise
liefert ein kurzer Syntheseweg zahlrei
che funktionelle Gruppen.
Funktionelle Gruppen am
Aromaten (hier eine Ethyl
gruppe, kurz Et) verschie
ben die Elektronendichte
im aromatischen Ring oder
schirmen bestimmte
Positionen räumlich ab. So
beeinflussen sie, in wel
cher Position eine weitere
Gruppe (R) andockt. Relativ
zur ersten funktionellen
Gruppe unterscheidet man
die ortho-, meta- und
para-Position.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
orthoProdukt metaProdukt paraProdukt
Ethylbenzol