Spektrum der Wissenschaft - 08.2019

(Ron) #1

drängten. Aber dieser Gedanke schien nicht zu den Fossil-
funden zu passen. Wie konnte ich dem nachgehen?
Nachdem ich mich in Statistik vertieft hatte, bemerkte
ich, dass Paläontologen, die sich mit wirbellosen Tieren
beschäftigten, schon vor zwei Jahrzehnten eine Methode
zur Messung der anatomischen Vielfalt in einer Artengrup-
pe entwickelt hatten, aber die Dinosaurierforscher hatten
dieses Verfahren bislang nicht zur Kenntnis genommen. Es
handelt sich um die morphologische Disparität. Wenn man
die Formenvielfalt der Dinosaurier und Pseudosuchia wäh-
rend der Trias betrachtet, sollte sich zeigen, ob sie mit der
Zeit mehr oder weniger vielgestaltig wurden, und mit
welcher Geschwindigkeit das geschah. Das wiederum wäre
ein Hinweis darauf, ob sie allmählich oder schlagartig
erfolgreich wurden und ob dabei eine Gruppe die andere
überholte.
Zusammen mit meinen damaligen Betreuern an der
University of Bristol stellte ich einen großen Datenbestand
über die Dinosaurier und Pseudosuchia der Trias zusam-
men, mit dem sich mehr als 400 anatomische Merkmale
beurteilen ließen. Die statistische Analyse, 2008 in »Sci-
ence« veröffentlicht, lieferte ein verblüffendes Ergebnis:
Während der gesamten Trias erwiesen sich die Pseudosu-
chia signifikant als anatomisch vielgestaltiger als die Dino-
saurier – die Evolution hatte also bei Ersteren mit einer
größeren Anzahl an unterschiedlichen Ernährungsformen
oder Verhaltensweisen experimentiert. Bei beiden Gruppen
nahm die Diversität im Lauf der Trias zu, dabei behielten
aber die Pseudosuchia die Führung. Im Gegensatz zu der
allgemein herrschenden Vorstellung, Dinosaurier hätten als
überlegene Kämpfer ihre Konkurrenten abgeschlachtet,
blieben sie in Wirklichkeit gegenüber den Pseudosuchia
während eines großen Teils ihrer gemeinsamen Existenz die
Verlierer.


Die Dinosaurer nutzen ein erneutes
Massenausterben als ihre Chance
Unsere statistische Analyse führte zu einer ketzerischen
Schlussfolgerung: Die ersten Dinosaurier waren im Ver-
gleich zu der Vielfalt anderer Tiere, die sich zusammen mit
ihnen während der Trias entwickelten, nichts Besonderes.
Wenn wir damals dabei gewesen wären, um das Leben in
Pangäa zu beurteilen, wären uns die Dinosaurier wahr-
scheinlich als recht unbedeutend vorgekommen. Wir hätten
wohl auf eine andere Tiergruppe gesetzt und vermutet,
dass die ungeheuer vielfältigen Pseudosuchia zu gewaltiger
Größe heranwachsen und schließlich die weltweite Vorherr-
schaft erringen würden. Aber natürlich wissen wir, dass es
die Dinosaurier waren, die den größten Aufstieg erlebten
und noch heute in Form von mehr als 10 000 Vogelarten
unter uns weilen. Dagegen haben nur rund zwei Dutzend
Arten von Krokodilen bis heute überlebt.
Wie konnten die Dinosaurier ihren Vettern die Macht
entreißen? Wieder einmal spielte ein glücklicher Zufall die
Hauptrolle: Gegen Ende der Trias zogen starke geologische
Kräfte den Kontinent Pangäa von Osten und Westen ausei-
nander, so dass er zerbrach. Heute füllt der Atlantik die
Lücke aus, damals aber lag dort ein Magmakanal. Mehr als
eine halbe Million Jahre lang strömten riesige Lavawellen


über weite Gebiete im Zentrum Pangäas – ähnlich wie bei
den gewaltigen Vulkanausbrüchen, die 50 Millionen Jahre
zuvor das Ende des Perm eingeleitet hatten. Und genau
wie diese früheren Eruptionen lösten auch die am Ende der
Trias ein Massenaussterben aus. Die Krokodillinie der
Archosaurier wurde dezimiert, und nur wenige Arten – die
Vorfahren der heutigen Krokodile und Alligatoren – konnten
überdauern.
Die Dinosaurier blieben dagegen von diesem Feuersturm
mehr oder weniger verschont. Alle ihre wichtigen Unter-
gruppen – Theropoda, Sauropodomorpha und Ornithi-

schia – erreichten die nächste Periode der Erdgeschichte,
die Jurazeit. Während um sie herum die Welt unterging,
gediehen die Dinosaurier, die irgendwie das sie umgebende
Chaos für sich nutzen konnten. Ich wünschte, ich wüsste
wie das ihnen gelang. Hatten die Dinosaurier etwas Beson-
deres, dass ihnen gegenüber den Pseudosuchia einen
Vorteil verschaffte? Oder kamen sie einfach durch schieres
Glück unversehrt davon, während so viele andere zu Grun-
de gingen? Das bleibt ein Rätsel für die nächste Paläontolo-
gengeneration.
Was auch der Grund war, warum die Dinosaurier die
Katastrophe überlebten, die Folgen sind unübersehbar.
Vom Joch ihrer Pseudosuchia-Konkurrenten befreit, begann
im Jura ihre Blütezeit. Die Dinosaurier wurden vielgestalti-
ger und größer als je zuvor. Neue Arten entstanden und
verbreiteten sich in den terrestrischen Ökosystemen auf der
ganzen Welt. Unter den Neuankömmlingen waren einige,
die sich erstmals mit Knochenplatten auf dem Rücken
panzerten; wahrhaft riesige Sauropoden ließen die Erde
erbeben; Fleisch fressende Vorfahren von T. rex wurden
größer und größer; andere Theropoden schrumpften dage-
gen, bekamen längere Arme sowie ein Federkleid – die
Vorfahren der Vögel. Jetzt herrschten die Dinosaurier. Sie
hatten mehr als 30 Millionen Jahre dazu gebraucht, aber
nun waren sie endlich am Ziel. 

QUELLEN
Brusatte, S. L. et al.: Superiority, competition, and opportunism
in the evolutionary radiation of dinosaurs. Science 321, 2008
Brusatte, S. L. et al.: The origin and early radiation of dinosaurs.
Earth-Science Reviews 101, 2010
Brusatte, S. L. et al.: Footprints pull origin and diversification of
dinosaur stem lineage deep into Early Triassic. Proceedings of
the Royal Society B 278, 2011
Langer, M. C. et al.: Untangling the dinosaur family tree. Nature
551, 2017

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