Focus - 24.08.2019

(Brent) #1

POLITIK


gazin

allen anderen Parteien. Was die Union
nie schaffte, die SPD als stärkste Kraft zu
beerben, dürfte der AfD in einer Woche
gelingen. Ähnlich erfolgreich sind Kalbitz’
Kollegen in Thüringen und Sachsen, Björn
Höcke und Jörg Urban.
Die Troika der Ost-Spitzenkandidaten
bildet die inoffizielle Führung des eben-
falls informell agierenden sogenannten
Flügels der Partei. Dort sind die sogar
für AfD-Verhältnisse extrem weit rechts
außen angesiedelten Mitglieder zu fin-
den. Im Osten gibt der Flügel den Ton
an, von vielen AfDlern im Westen wird
er verachtet oder zumindest gefürchtet.
Oft aus sehr persönlichen Gründen: Da
der Verfassungsschutz den Flügel beob-
achtet, wird die AfD-Mitgliedschaft zum
Risiko für jeden, der sich als
bürgerlich betrachtet oder
gar Beamter ist.
Gaulands Co-Vorsitzen-
der Jörg Meuthen mag
sich aus gutem Grund auf
einen Erfolg seiner Partei
im Osten nicht recht freu-
en. Sollten sich die Progno-
sen bewahrheiten, wird die
Macht des Flügels wach-
sen. Die ohnehin schon arg
geschundene Fassade der
einst von wirtschaftslibe-
ralen Professoren gegrün-
deten „Alternative“ wäre
wohl endgültig dahin.
Urban, Kalbitz, Höcke
und ihre Mitstreiter haben
nicht weniger als die Revo-
lution im Sinn – antibürger-
lich, radikal und kompro-
misslos. Die Partei ist für sie
das Vehikel, und ihre ersten
Opfer wären ihre einstigen
Förderer und Beschützer: Gauland und
Meuthen haben den Flügel und seine
Protagonisten stets vor Sanktionen aus
dem eher gemäßigten Lager des Westens
bewahrt. Nun könnte auch bei der AfD die
Revolution ihre eigenen Kinder fressen.
In der Öffentlichkeit gilt Sportlehrer
Höcke als Anführer des Flügels. Der
gebürtige Westfale berauscht sich am gro-
ßen Auftritt, spricht mit Tremolo, wenn
er vor „alten Kräften“ warnt, die „unser
liebes deutsches Vaterland (...) wie ein
Stück Seife unter einem lauwarmen Was-
serstrahl“ auflösen wollten.
Doch die Fäden zieht längst Andreas
Kalbitz, ein kühler Machtpragmatiker und
das organisatorische Zentrum der extre-


men Rechten in der Partei. Der gebürtige
Münchner weiß sehr genau, was er gera-
de noch sagen und insinuieren kann, um
nicht als klarer Gegner des Grundgeset-
zes zu gelten.
Noch reden sich die Parteichefs in Berlin
die Lage schön, während die Spannweite
des Flügels wächst und schon weit über
den Osten hinausragt. Meuthen spricht
von „einer Minderheit, die als dominant
erlebt wird“. Die Medien bräuchten den
Flügel, um die AfD zu dämonisieren. Dass
der Landesverband Schleswig-Holstein
im Juni Doris von Sayn-Wittgenstein zur
Vorsitzenden wählte, obwohl sie wegen
extremer Positionen 2018 aus der Land-
tagsfraktion ausgeschlossen wurde und
der Bundesvorstand ein Parteiausschluss-

verfahren gegen sie führt, rechnet der
Parteichef klein: „Da müssen Sie genauer
hingucken, es waren 139 Mitglieder, die
sie gewählt haben, die Partei besteht aber
aus rund 35 000 Mitgliedern.“
Und hätten die 139 gewusst, was der
Parteivorstand über Sayn-Wittgenstein
zwar wisse, wegen des laufenden Aus-
schlussverfahrens aber nicht sagen dür-
fe, hätte sie auch nicht gewonnen: „Die
haben nicht in Kenntnis der Aktenlage
gewählt.“
Legendär ist Gaulands Ausspruch, dass
die AfD „ein gäriger Haufen“ sei. Da
wähnte er sich offenbar in der Position,
die chemischen Prozesse jederzeit kon-
trollieren zu können. Doch jetzt ist auch
er in der Defensive. Beim „Kyffhäuser-
Treffen“ Anfang Juli, der
jährlichen Versammlung
des Flügels, warnte er sei-
ne „lieben Freunde“ ver-
zweifelt: Die Partei gebe
es nicht, um „einen Raum
zu schaffen, in dem jeder
alles sagen kann“. Sie
könne nicht den „Glanz
der Visionen und Utopien
anbieten, sondern ledig-
lich das Graubrot bürger-
licher Vernunft“. Höcke
dagegen hatte eine Kampf-
ansage für die Kyffhäu-
ser-Heerschau. Er könne
garantieren, „dass dieser
Bundesvorstand in dieser
Zusammensetzung nicht
wiedergewählt wird“.
Damit würde sich Partei-
geschichte wiederholen,
oder – je nach Betrach-
tung – die Evolution der
AfD voranschreiten. Jeder
Wechsel an der Spitze bedeutete einen
Ruck nach rechts: 2015 besiegte Frauke
Petry den Parteigründer Bernd Lucke, der
daran scheiterte, den Flügel einzudäm-
men. 2017 warf Petry schließlich hin, auch
ihr waren die Rechtsaußen entglitten. Nun
sind Meuthen und Gauland die Gejagten
des Flügels.
Doch wie will Meuthen, der sich in der
Vergangenheit selbst Stimmen vom Flü-
gel lieh, die Entwicklung noch stoppen?
Ausgerechnet eine Analogie mit dem
politischen Erzfeind fällt ihm dazu ein:
„Denken Sie daran, was bei den Grünen
am Anfang los war und wie die mit ihren
Vorsitzenden umgegangen sind. Dagegen
sind wir Waisenknaben.“

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Wie ein Stück
Seife unter einem

lauwarmen
Wasserstrahl

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Thüringens AfD-Chef Björn Höcke

Fächer und Propaganda
Presse und AfD-Anhänger pflegen
eine schwierige Beziehung.
Die Nato ist im Osten unbeliebt

32 FOCUS 35/2019

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