Focus - 24.08.2019

(Brent) #1
TITEL

Trutzburg
Nicht nur wenn es regnet, rücken
AfD-Anhänger enger zusammen
wie hier in Brandenburg

Auch die Öko-Partei habe sich letztlich
für die Realpolitik entschieden, stellt er
fest. Bei der AfD liefen nun „innere Be-
reinigungsprozesse, die harte Kärrner-
arbeit“ seien – etwa der Ausschluss von
Sayn-Wittgenstein.
Doch wer wird beim großen Reinemachen
rausgewaschen – die Gemäßigten oder die
Radikalen? Sachsens Spitzenkandidat Jörg
Urban warnt vor Säuberungen: „Ein guter
Vorstand muss es schaffen, seine Interes-
sen zurückzustellen.“ Wer etwas von der
AfD abschneide, gebe ihren Anspruch als
Volkspartei auf. „Wir haben in den letzten
Jahren gelernt, dass man Dinge akzeptie-
ren muss, die einem nicht gefallen, großen
Teilen aber sehr wohl.“ Offenbar hätten
jedoch nicht alle Bundesvorstände diese
Lehre „verinnerlicht“.
Gibt es für den Flügel noch
irgendwelche Grenzen?
„Natürlich“, sagt Urban.
„Als Rechtsstaatspartei ver-
langen wir, dass unsere
Mitglieder sich im Rah-
men der bestehenden Ge-
setze bewegen.“ Aber: „Wir
müssen aufpassen, dass wir
uns nicht alles als staats-
feindlich aufdiktieren las-
sen, was am Ende legitime
Meinungsäußerungen sind.
Wir leben in einer Gesell-
schaft, die es zulässt, dass
sie verändert wird, die den
Parlamenten das Recht gibt,
Gesetze und Verfassun-
gen zu ändern. Und wenn
es zulässig ist, muss man
auch darüber reden können,
wie man eine Gesellschaft
anders strukturiert. Das ist
nicht staatsfeindlich.“
Solche Sätze lassen Verfassungsschüt-
zer aufhorchen – und treiben die bürger-
lichen Mitglieder der AfD entweder zum
Austritt oder zumindest in den Wahnsinn.
So auch Pazderski, der die Lage seiner
Realos in der Partei betont optimistisch
einschätzt: 15 bis 20 Prozent der AfD seien
dem Flügel zuzurechnen. Dass die AfD
zu einer Ost-Partei mutiere, sei „schlicht
nicht möglich“. Im Westen habe die Partei
rund 27 000 und im Osten 8000 Mitglieder.
Es spiele keine Rolle, dass der radikale
Flügel im Osten des Landes Triumphe
feiere. „Im Gegenteil“, mahnt Pazderski,
„mit noch mehr vernünftigen und seriö-
sen Stimmen könnten wir wahrscheinlich
deutlich erfolgreicher sein.“


Wie ticken Wähler und Basis?
Etablierte gegen Außenseiter
Tief verstört schauen viele Großstädter auf
die AfD-Hochburgen – meist im Osten,
seltener im Westen. Kurz vor den zu
erwartenden Wahlerfolgen ist das Unver-
ständnis besonders groß.
Wie, so fragen sich Meinungsmacher
und -führer in den Städten, können die
Ostdeutschen nur so rassistisch, hass-
erfüllt und moralisch verkommen sein?
Das Kreuz bei der AfD – da ist man sich
in Hamburg, München und den trendigen
Teilen Berlins sicher – ist verwerflich und
Ausdruck von Niedertracht.
Doch ist es so einfach? Sind alle
AfD-Wähler und -Mitglieder finstere und
bösartige Gesellen – egal, ob in Ost oder

West? Und sind die Landstriche, in denen
die Partei besonders erfolgreich ist (die
Lausitz, der Spreewald oder das Eichs-
feld), Sammelbecken des Irrationalismus?
Wie tickt das Milieu, das um die Partei
gewachsen ist? Warum marschieren nor-
male Bürger neben Neonazis in Demons-
trationszügen mit? Auch bei ihren Wäh-
lern und Anhängern offenbart die AfD
Widersprüche, die keine Partei sonst aus-
halten würde.
Der kleinste gemeinsame Nenner ist
die Ablehnung des Establishments. Die
eigenen Wähler seien in ihrer Ablehnung
der etablierten Parteien über alle Klassen-
und Standesgrenzen hinweg einig, heißt
es im Vorstandspapier. „Sie wenden sich
gegen den rot-grünen Zeitgeist, der sich
in Themen wie ‚Political
Correctness‘ und den damit
verbundenen Sprechver-
boten, in Genderismus,
‚Multikulti‘, Frühsexuali-
sierung, Bedienung von
Sonderinteressen, Vertei-
digung von Besitzständen
und Privilegien, überzoge-
nem Minderheitenschutz,
drastischem Bildungsver-
fall, Schuldenwirtschaft,
Verwahrlosung des öffent-
lichen Raums und im Kult
um den sogenannten ‚Kli-
mawandel‘ manifestiert.“
Den AfD-Wähler zu ver-
stehen, das hat sich die
Soziologin Cornelia Kop-
petsch zur Aufgabe ge-
macht. Sie lebt in Berlin,
lehrt an der TU Darmstadt.
Ihre Erkenntnisse lassen
sich so zusammenfassen:
AfD-Wähler verhalten sich
in der Wahlkabine so rational wie die
Bewohner von Prenzlauer Berg oder von
Hamburg-Eimsbüttel.
Und sie hat noch eine weitere, für die
urbanen Eliten unangenehme Nachricht
parat: dass sie nämlich einen großen
Anteil der Verantwortung für den Aufstieg
der AfD tragen. Schlimmer: dass sie sogar
die Ressentiments der AfD-Wähler teilen.
Also raus aus der Metropole. Wenige
Meter entfernt vom Görlitzer Hauptbahn-
hof lebt Frank Großmann. Der 60-Jähri-
ge ist „selbstständig in der Immobilien-
verwaltung“, wie er sagt. Das Sozialamt
hilft ihm über die Runden. Die Soziolo-
gin Koppetsch porträtiert in ihrem Buch
„Die Gesellschaft des Zorns“, das den

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Man muss auch
darüber reden, wie

man eine Gesellschaft
anders strukturiert

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Sachsens AfD-Chef Jörg Urban

FOCUS 35/2019 33

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