Focus - 24.08.2019

(Brent) #1

POLITIK


44 FOCUS 35/2019


Entscheidung für die erwachsenen Deut-
schen im Al-Haul-Camp?
Gerade diese Frage ist es, die alles so
kompliziert macht. Wohin mit Frauen und
Männern aus Deutschland, die für den
Islamischen Staat (IS) gekämpft haben.
Mitglieder einer Terrororganisation, die
sich plötzlich in einem Krieg gegen die
westliche Welt befanden. Geht von ihnen
noch immer eine Gefahr aus?
Der Islamische Staat gilt als besiegt,
doch wer das Al-Haul-Camp besucht,
merkt schnell: Der IS existiert zwar nicht
mehr über den Irak und Syrien verteilt,
aber konzentriert nahe der irakischen
Grenze. In diesem Lager. Und das ist
mehr als gefährlich.
Al-Haul ist ein kleines Städt-
chen mit knapp 3500 Einwoh-
nern, das noch bis 2015 ein
wichtiger strategischer Stütz-
punkt der Extremisten war.
Heute bewachen und kontrollie-
ren dort kurdische Verbände die
Straßen. Nur mit den richtigen
Papieren gelingt der Durchlass.
Das Camp ist organisiert
wie eine Satellitenstadt von
al-Haul: mit einem Basar in
der Mitte, einem abgesperrten
Bereich für die sogenannten
Internationalen, mit einem viel
zu kleinen notfallmedizinischen
Krankenhaus, einer Schule.
Die UN-Flüchtlingshilfsorga-
nisation versorgt das Lager
nur mit dem Allernötigsten. Im
April 2019 waren rund 74 000
Menschen in dem Flüchtlings-
camp registriert, Iraker, Syrer
und Hunderte Europäer, da-
runter etwa 70 erwachsene Deutsche und
mindestens 100 Kinder, die Anspruch auf
die deutsche Staatsbürgerschaft haben.
Allein im Dezember 2018 kamen 40 000
als Flüchtlinge hierher, die meisten von
ihnen aus einer der letzten IS-Hochbur-
gen, aus al-Baghuz Fawqani. Viele sind
Anhänger und Sympathisanten des IS.


Ein Nährboden für radikale Gedanken


Im Sommer werden es hier über 50 Grad,
im Winter sinken die Temperaturen auf
Minusgrade. Aus dem Staub, der durch
das Camp weht, wird dann Schlamm. Es
ist ein Ort, an dem nicht nur Krankheiten
entstehen, sondern radikale Menschen


noch radikaler werden. Al-Haul ist ein
Ort, an dem sich die Reste des IS neu
formieren. Eine Zeitbombe, die nur ent-
schärft werden kann, wenn Deutschland
nicht nur die Kinder, sondern auch die
Erwachsenen zurückholt.
Im Gegensatz zu den syrischen und
irakischen IS-Anhängern dürfen sich die
Internationalen, auch die Deutschen,
nicht frei bewegen. Die kurdischen Be-
wacher kontrollieren streng. Zur Lange-
weile kommt bei den Ausländern die Un-
gewissheit: Steht den Gefangenen, die
doch eigentlich Flüchtlinge sind, die Hin-
richtung bevor, weil sie Mitglieder einer
Terrororganisation waren, oder dürfen sie
zurück in die Heimat, nach Deutschland?

Wer mit den Frauen sprechen möchte,
muss sich in das Lager einschmuggeln.
Journalisten bekommen zwar die Mög-
lichkeit, sich offiziell zu akkreditieren,
aber werden vor Ort vertröstet. „Heute
nicht“, sagt die Lagerleitung stets. Der
Kontakt mit den Flüchtlingen ist nicht
erwünscht.

Kein Kontakt zur Außenwelt
Während des Gangs durch die Zeltreihen,
vorbei an den Eingängen der Unterbrin-
gungen, verstecken sich erschrockene
Frauen vor den Blicken eines fremden
Mannes. Sie verstecken ihre Kinder vor
der westlichen Welt, in der die Mütter
groß geworden sind. Leben in al-Haul
bedeutet: überleben – und den
Glauben an den IS nicht auf-
geben.
Ein kleines Supermarkt-
Schwimmbecken mit grauem
Wasser. Etwas Abkühlung, die
Kinder üben Arschbombe und
spritzen sich mit Wasser voll,
mit geschlossenen Augen klingt
es nach Sommer. Nach Norma-
lität.
Eine Frau, vollständig ver-
schleiert, tritt vor ihr Zelt. „Wisst
ihr etwas über meinen Mann?“,
fragt sie sofort auf Deutsch und
stellt sich erst dann vor. Sie
kommt aus Österreich, hat zwei
Kinder, ihr Mann sitzt hier in
der Region im Gefängnis, sie
hatte ihn begleitet. Um zwei
Waisen kümmert sie sich auch
noch. Trotz des beschwerlichen
Lebens will sie bleiben. Wäh-
rend des gesamten Gesprächs
reckt sie den Finger zum Himmel, eine
Geste des IS. Für sie ist der Aufenthalt im
Camp eine Fügung Gottes. „Ich bin hier,
weil er es so entschieden hat“, sagt sie.
Ihre Stimme bebt.
„Ihr versteht nicht, warum Köpfe ab-
geschlagen werden müssen für unsere
Sache“, sagt sie. Sie ist radikal, sie bleibt
es. Für den IS sei dieses Camp gut. Sie
sagt: „Hier sind wir alle zusammen.“
Al-Haul mag durch die kurdischen Ver-
bände gut bewacht sein, aber die Sicher-
heitsstrukturen innerhalb des Camps sind
fahrlässig. Es sind leicht überwindbare
Zäune. Wenn Journalisten die Möglich-
keit haben, sich hineinzuschmuggeln,

Wer in al-Haul die Regeln des Islamischen Staates bricht, wird umgebracht


Alltagsfreuden Zwischen fünf Gebeten am Tag und strenger
Glaubenskultur ist manchmal auch Normalität möglich

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