Focus - 24.08.2019

(Brent) #1
AUSLAND

Fotos: Thilo Mischke, Barzan Mohammed


FOCUS 35/2019 45

dann können sich Insassen auch heraus-
schmuggeln. Die internationale Gemein-
schaft überlässt den IS sich selbst.
Die Infrastruktur für Menschen fehlt,
für die Ideologie ist sie perfekt. Es ist
Rakka in klein, ein Nährboden für den
extremistischen Islam – so, wie die nord-
syrische Stadt bis zu ihrer Befreiung 2017.
Mit den Konsequenzen muss bislang nur
die lokale Bevölkerung leben: Immer wie-
der erschüttern Selbstmordanschläge die
Grenzregion zum Irak. Der kurdische Ver-
band YBS mutmaßt: Vorbereitet werden
die Anschläge im Camp.
Viele, die hier leben, haben sich ihre
Gesinnung bewahrt, aber es gibt eben
auch die Geläuterten, die längst ihren
Irrweg bereuen. „Es geht uns hier sehr
schlecht“, sagt Um. Sie will ihren richtigen
Namen nicht preisgeben, nur ihr Alter.
25 Jahre alt sei sie. Die junge
Frau sitzt mit Hidschab und
Nikab bekleidet, also nach der
üblichen Bekleidungsregel des
IS, in ihrem Zelt. Und schwitzt.
„Die Kleidung ist unpraktisch,
aber ich darf sie hier nicht able-
gen“, sagt sie.

Die brutale Herrschaft
der Schwestern
Sie kam nach Syrien, um sich
frei zu fühlen. Ihre Freiheit ist
nun zwei Quadratmeter groß,
ein kleiner Küchenbereich.
Ein Säugling schläft überhitzt
auf einer Matratze, wimmert
im Schlaf. „Ist nicht meins, ist
Waise“, sagt sie und zeigt auf
das Kind. „Aber ich passe da-
rauf auf.“
Um verließ vor sieben Jahren
Deutschland in Richtung Syri-
en. „Um den Islam zu leben“,
sagt sie. Sie sei vom Glauben fasziniert
gewesen, erzählt sie und spricht auch vor-
sichtig von ihrer Radikalisierung. Erzählt,
wie sie über einen Freund zum Islam
fand. Nicht Hasspredigten oder Brain-
washing habe sie nach Syrien geführt.
„Pierre Vogel mochte ich nicht“, sagt sie.
Der einflussreiche radikale Salafist aus
dem Ruhrgebiet brülle ihr zu viel.
Und auch sie will wissen: „Wann kön-
nen wir nach Hause, und wie geht es
unseren Männern?“ Darauf gibt es noch
keine Antwort. Die Männer, wenn sie
überlebt haben, befinden sich in einem
Gefängnis, zwei Autostunden Richtung
türkisch-syrische Grenze.

Es ist hier krasser als im Islamischen
Staat“, sagt Um. „Die Schwestern passen
sehr auf die Einhaltung der Regeln auf“,
erklärt sie. Schwestern, das sind die ande-
ren Frauen. Nicht nur die Kleidungsregel,
keine Haut zu zeigen, muss eingehalten
werden. Auch die Erziehung der Kinder,
das Gespräch mit einem Mann – für alles
gibt es Regeln. Kleinste Verstöße sind
lebensgefährlich. „Die Schwestern bren-
nen die Zelte ab von denen, die ihrer Mei-
nung nach nicht korrekt den Islam leben“,
sagt Um. Die Frauen verbrennen darin mit
ihren Kindern. Niemand kann die Brände
löschen. Weil das Wasser dafür fehlt.
Sie wedelt mit ihrem Gesichtsschleier,
erträgt die Hitze kaum. Das Kleinkind
schläft während des gesamten Gesprächs.
Kein Weinen, kein Bedürfnis. Es sieht
krank aus.

„Keine Sorge“, sagt sie. „Die Kinder
schwitzen hier immer. Es gibt keine medi-
zinische Versorgung, nicht genug Essen,
und ständig haben wir Angst, getötet zu
werden.“ Innerhalb des Camps agiert eine
Scharia-Polizei, es gibt ein inoffizielles
Gericht, Menschen sterben hier immer
noch im Namen des IS. Anfang August
wurde eine indonesische IS-Sympathi-
santin tot aufgefunden. Vergewaltigt und
misshandelt. Um weiß, warum.
„Auch sie hat sich nicht an die Regeln
gehalten.“ Regeln, die nicht von der
Lagerleitung festgelegt wurden, sondern
von den Insassen. Wer diesen Teufelskreis
durchbrechen will, muss handeln.

Doch wie? Sollte die Bundesregierung
etwa Terroristen zurück nach Deutsch-
land bringen lassen? Eine kostspielige
Lösung, die Kämpfer und Frauen des
Islamischen Staates nach Deutschland
zurückzuholen, sie vor ein Gericht zu
stellen, zu therapieren, zu überwachen
und einzuschätzen, ob sie ein Risiko für
die Demokratie und Freiheit Europas
sind. Der deutsche Staat könnte versu-
chen, diesen Menschen den Nährboden
für eine noch stärkere Radikalisierung zu
entziehen und ihnen eine zweite Chance
geben. Er könnte die Kinder, so weit es
geht, schützen. Die Narben auf ihrer
Seele zumindest verheilen lassen.

Döner und Mezzo-Mix
Der Bundestag hat noch keine Entschei-
dung getroffen, er wird erst nach der
Sommerpause über das Prob-
lem debattieren. Die Tatsache,
dass sich das Camp al-Haul in
einem nicht anerkannten Auto-
nomiegebiet der syrischen und
irakischen Kurden (YPG) befin-
det, macht das Verhandeln um
die Deutschen des Islamischen
Staates nicht einfacher.
Um ist das alles egal. Sie
will nach Hause, sie will den
Nikab ablegen, will ein norma-
les Leben führen. „Ich war nie
so radikal“, sagt sie, als sei das
eine Entschuldigung. „Ich will
nur noch nach Hause, ich will
einen Döner und Mezzo-Mix.“
Ihre Stimme klingt erschöpft.
Der kleine Junge am Zaun
allerdings, er ist jetzt zu Hause.
Yahya, so heißt er. Um 13.30 Uhr
vorigen Montag fuhren die
Autos, die das Auswärtige Amt
zum Camp geschickt hatte,
los. Am Abend erreichten sie Erbil, die
Hauptstadt der Region Kurdistan im Irak.
Dort, in einem Hotel, haben seine Groß-
eltern auf ihn gewartet. Der Islamische
Staat hat nun keinen Einfluss mehr auf
ihn, und damit ist er, zumindest für Yahya,
tatsächlich besiegt. n

Alltagsleiden Dieser schwer verletzte syrische Junge
bettelt auf dem Basar von al-Haul

FOCUS-Reporter Thilo Mischke, 38, traf den
siebenjährigen Yahya eher durch Zufall. Die Geschichte
des Waisenjungen konnte er nicht vergessen. Sie
begleitete ihn während der gesamten Recherchen für
seine ProSieben-Sendung „Uncovered“. Ausstrahlung:
Herbst 2019
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