Focus - 24.08.2019

(Brent) #1
WIRTSCHAFT

56 FOCUS 35/2019

I


m Dekolleté der Grande Dame des
Hauses leuchtet eine rote Rose.
Dazu trägt sie Dirndl. Auch mit
90 legt Maria Seyrling großen
Wert auf ein perfektes Äußeres.
Sich gehen zu lassen ist der Senior-
chefin des „Hotel Klosterbräu“ in
Seefeld, Tirol, ein Gräuel. Rechts
von ihr sitzt Enkel Alois Seyrling und
hält ihre Hand. Der 39-Jährige leitet in
der sechsten Generation das Traditions-
haus, in dem schon Augustinermönche im


  1. Jahrhundert ihr Bier brauten und das
    1809 in den Besitz der Familie Seyrling
    kam. Gegenüber von Maria Seyrling hat
    ihre Schwiegertochter Cristina Seyrling,
    60, Platz genommen. Die Grande Dame
    lächelt sie an, ihre blauen Augen strahlen.
    Dann bittet sie die Autorin, sie Midi zu
    nennen. Sie würde sich sonst alt fühlen.


Okay, Midi, zwischen den sechziger
und achtziger Jahren war das „Kloster-
bräu“ eine berühmte Partyhochburg,
und Sie waren die Königin.
Maria Seyrling: Das waren Zeiten! Ich saß
oft bis acht Uhr morgens an der Bar.
Alois Seyrling: Und da schon immer mit
roter Rose im Ausschnitt und filterloser
Zigarette zwischen den Fingern.
Maria Seyrling: Logisch. Ich habe drei
Schachteln am Tag geraucht. Die meis-
ten davon lösten sich jedoch in Luft auf,
weil ich sie immer weglegte, wenn ich
Gäste begrüßte oder mich mit ihnen
unterhielt. Früher wurde viel getrunken
und wenig geschlafen. Heute gibt es so
ein Nachtleben nicht mehr. Die Leute
gehen früh ins Bett, leben gesund und
machen Wellness.
Alois Seyrling: Bei dir waren der Schah
von Persien zu Gast, Willy Brandt, König
Carl Gustaf von Schweden mit seiner Frau,
Königin Silvia, und Konrad Adenauer.
Maria Seyrling: Der Schah war nicht so zu-
gänglich. Dafür war Willy Brandt sehr
leutselig. Den habe ich gemocht. Wie
Harald Juhnke.
Herr Juhnke war Quartalstrinker.
Maria Seyrling: Einmal haben sie ihn zu
mir ins Wohnzimmer gebracht, damit er
nicht an den Alkohol im Eisschrank in
seinem Zimmer kam. Ich sagte ihm: „Ich
gebe dir nichts. Auf gar keinen Fall!“ Ge-
freut hat ihn das nicht.
Alois Seyrling: Ein anderes Mal mussten
wir die Karten für seinen Auftritt bei uns
zurückgeben, richtig?
Maria Seyrling: Ja. Herr Juhnke hatte
am Tegernsee einen Totalausfall und war
nicht transportfähig.
Alois Seyrling: Unsere Stammgäste er-
zählen gern, dass wir uns alle an der Bar

kennengelernt haben: die Oma und der
Opa beim Heimkellerball, die Mama und
der Papa in einem Nachtclub, meine Frau
und ich an der Hotelbar.
Cristina Seyrling: Wir sind eben eine fröh-
liche Partyfamilie.
Alois Seyrling: Richtig. Wir feiern, lachen
und trinken dazu gerne, weil Feiern ohne
Trinken keine Feier ist. Der moderne Gast
feiert allerdings deutlich weniger intensiv
als früher. Damit meine ich, wie die Midi
schon sagte, besonders die junge Gene-
ration, die es in der Regel ruhig angehen
lässt und den Sport und das Relaxen dem
Alkohol vorzieht.
Cristina Seyrling: Komasaufen gab’s frü-
her auch. Das hat Gott sei Dank aufge-
hört.
Herr Seyrling, Sie führen das Haus
in der sechsten Generation, die
siebte Generation ist bereits auf der
Welt. Wie wichtig ist Tradition?

Maria Seyrling: Ich glaube, die Tradition ist
der heutigen Jugend nicht mehr so wichtig.
Alois Seyrling: Da muss ich dir widerspre-
chen. Wir legen Wert auf Tradition, sehen
sie aber etwas anders.
Maria Seyrling: Ich meine ja auch nicht
unsere Familie.
Alois Seyrling: Mir geht es darum, das
Feuer der Tradition zu erhalten und nicht
die Asche anzubeten. Wir investieren viel,
zum Beispiel im Wellness-Bereich, und wir
brauen seit 2014 nach einer 80-jährigen
Pause wieder unser eigenes Bier.
Cristina Seyrling: Und wir haben kürze-
re Schließzeiten. Früher hatten wir sechs
Monate im Jahr geschlossen, heute weni-
ger als zwei.
Alois Seyrling: Damals erwirtschafteten
wir im Winter 80 Prozent vom Jahres-
geschäft, im Sommer 20 Prozent. Heute
liegen wir bei 50 zu 50.

Wie hoch ist der Jahresumsatz?
Alois Seyrling: Wir arbeiten heuer an
knapp über neun Millionen netto. Das ist
eine gute Entwicklung. Und weil Erfolg
immer mit Innovation verbunden ist, lau-
tet mein Leitspruch: „Nicht alles ist heilig,
was Tradition anbetrifft.“ Wobei der Werte-
erhalt in der Familie bei uns nach wie vor
Dreh- und Angelpunkt ist.
Cristina Seyrling: Für mich ist wichtig,
dass die Kinder und die Enkelkinder
bodenständig bleiben und dass die Fami-
lie trotz der Arbeit an erster Stelle steht.
Alois Seyrling: Ein Wert in Bezug auf das
Unternehmen ist, es als Ganzes zu belas-
sen, damit es geplante und ungeplante
Erbschaften überdauert. In diesem Punkt
haben unsere Vorgänger sehr viel richtig
gemacht – auch wenn sie eher diktatorisch
waren. Meine Mutter und ich haben die
Zukunft des Unternehmens dann neu defi-
niert, indem wir die Harmonie der Familie
ganz in den Vordergrund rückten. Das
ist vor allem für die Familienmitglieder,
die aus dem Unternehmen ausgeschieden
sind, wichtig.
Cristina Seyrling: Nach dem frühen Tod
meines Mannes vor 16 Jahren übernahm
ich die Leitung des Unternehmens. Im
Laufe der Zeit bin ich dann zu der Über-
zeugung gekommen dass es wichtig ist,
ein Unternehmen früh zu übergeben. Das
habe ich letztes Jahr getan.
Ist es schwergefallen?
Cristina Seyrling: Im Gegenteil. Ich bin
stolz darauf, dass ich nach 40 Jahren an
der Hotelspitze gesehen habe, dass dieser
Schritt richtig war. Auch deshalb, weil ich
glaube, dass die Probleme, die zwischen
der älteren und der jungen Generation
entstehen können, damit zu tun haben.
Die ältere Generation kann oft nicht los-
lassen, weil sie kein Vertrauen hat. Ich ver-
traue meinem Sohn hundertprozentig.
Dass er mit 24 nach dem Tod seines Vaters
seine Ausbildung an der Hotelfachschule
in Luzern unterbrach und mir zur Seite
stand, fand ich großartig. Für mich brach
damals eine Welt zusammen. Mein Mann
war ja erst 50, als er starb. Er hatte kein
Testament hinterlassen, und es war völlig
unklar, wie es weitergehen wird.
Alois Seyrling: Hinzu kam, dass zwei
Jahre vor Vaters Tod mein Großvater ge-
storben war.
Cristina Seyrling: Richtig. Auch deshalb
war noch nicht alles abgeschlossen. Diese
Herausforderung, diese schwierige Zeit,
hätte ich ohne meine Kinder, die mir die
Kraft dazu gaben, weder angenommen
noch durchgestanden. Viele Menschen
trauten mir diese Aufgabe nicht zu.
Haben Sie ein Testament gemacht?

»


Nicht alles ist


heilig, was


Tradition anbetrifft


«


Alois Seyrling
Free download pdf