Focus - 24.08.2019

(Brent) #1

WIRTSCHAFT


58 FOCUS 35/2019


Cristina Seyrling: Ja, letztes Jahr. Und
weil ich der Meinung bin, dass nur einer
Chef sein kann, habe ich verfügt, dass
das der Alois ist. Meine Töchter Lau-
ra und Linda, die mit ihren Partnern
ebenfalls im Unternehmen sind, haben
das akzeptiert, weil wir trotzdem alles
gemeinsam besprechen und entschei-
den. Wir suchen sogar die Farben der
Vorhänge gemeinsam aus.
Midi, ist Ihr Enkel ein guter Chef?
Maria Seyrling: Er ist eine beliebte Res-
pektsperson. Außerdem ist der Alois sehr
kontaktfreudig, kann gut mit den Gästen
umgehen. Wenn er und seine Frau Agnes
das Haus in diesem Sinne weiterführen,
bleibt es in guten Händen.
Alois Seyrling: Ich würde gern noch etwas
zu der Erbschaft sagen. Weil kein Testa-
ment da war, hat es drei Jahre gedauert,
bis die Erbfolge vom Finanzamt geneh-
migt wurde. Danach waren die Mama
und ich Eigentümer. Als sie sich letztes
Jahr aus der Geschäftsführung zurückzog,
übertrug sie ihre Anteile an mich. Meine
Geschwister sind also aus dem Risiko he-
raus. Laura und Linda sind Mitarbeiter auf
der Geschäftsleitungsebene, haben aber
volles Mitspracherecht.
Cristina Seyrling: Dass es nur einen Chef
gibt, ist nicht nur für die Familie und die
Mitarbeiter wichtig, sondern generell.
Mein Sohn ist einerseits sehr lustig und
charmant, was er von seinem Vater hat,
andererseits aber auch konsequent, und
wenn es sein muss, beinhart in der Sache.
Wenn ich sehe, wie er mit einem Bank-
direktor spricht: Chapeau! Und Touris-
mus-Direktor ist er auch noch. Aber vor
allem ist er ein guter Vater, der sich trotz
allem Zeit für seine beiden Kinder nimmt.
Ich bin sehr stolz auf meinen Sohn.
Alois Seyrling: Ein paar Jahre Jugend
fehlen mir schon, obwohl ich die weni-
gen, die ich hatte, intensiv genutzt habe.
Wenn ich jedoch gewusst hätte, was auf
mich zukommt, hätte ich das Erbe viel-
leicht nicht angetreten. Andererseits ist
das Hotelfach meine Berufung, für die
ich brenne. Es gibt einfach nichts Schö-
neres, als das eigene Unternehmen nach
meinen Visionen und Wünschen zu gestal-
ten. Abgesehen davon: In welchem Job
hat man schon die Möglichkeit, Job und
Familie zu kombinieren?
Midi, Sie haben vier Kinder. Wie
haben Sie sie erzogen?
Maria Seyrling: Wir haben unsere Kinder
nicht gefragt: „Was willst du werden?“
Es war automatisch so, dass sie ins Gast-
gewerbe kamen. Und sie wollten es auch
alle. Aber wir haben sie ihr Abitur machen
lassen. In den Ferien haben alle vier jedoch


schon früh im Hotel mithelfen müssen.
Deshalb war Höflichkeit gefordert. Meine
Kinder wurden sozusagen zum Freund-
lich-Grüßen erzogen. Das ist heute oft nicht
mehr so. Insbesondere was den Respekt
und die Augenhöhe der jungen Leute vor
der älteren Generation angeht.
Ihr ältester Sohn Sigi ist vor Ihnen
gestorben. Für eine Mutter ist der
Tod eines Kindes unermesslich.
Maria Seyrling: Ich kann bis heute kaum
darüber sprechen. Gott sei Dank habe
ich noch meine drei Kinder, meine sechs
Enkel und meine neun Urenkel. Als Sigi
starb, war meine größte Sorge, dass der
Alois die Hotelfachschule schmeißt. Dem
war nicht so. Überhaupt war meine Fami-
lie in dieser Zeit ein großer Trost. Der
Alois sagt oft zu mir: „Oma, wenn du
hereinkommst, geht die Sonne auf.“
Midi, waren Sie mit der Wahl Ihrer
Schwiegertochter einverstanden?
Maria Seyrling: Sehr!

Cristina Seyrling: Mir wurde nichts ge-
schenkt. Du bist eine starke Persönlichkeit
und warst als Chefin eine Autoritätsper-
son, die streng war mit ihren Mitarbeitern
und mit der Familie. Hinzu kam, dass ich
in Südtirol ein humanistisches Gymna-
sium besucht hatte, Altgriechisch und
Latein beherrschte, aber vom Hotelgewer-
be und der Gastronomie keine Ahnung
hatte. Nach unserer Hochzeit wurde ich
ins kalte Wasser geschmissen, musste
sofort die Küchenkasse und das Control-
ling am Küchenpass übernehmen. Das
hat mich oft zur Verzweiflung getrieben.
Alois Seyrling: Der Küchenpass ist der
kritischste Punkt im ganzen Hotel. Der
Service schreit rein, die Küche schreit raus.
Cristina Seyrling: Und wie! Dabei kann-
te ich gerade mal den Unterschied zwi-
schen Weißwein und Rotwein. Und weil
es damals noch keine Computer gab, saß
ich anschließend bis tief in die Nacht da
und habe Abrechnung gemacht. Mein
Schlafmangel in der Zeit war grandios.
Aber wen sah ich, wenn ich nach einer
kurzen Nacht frühmorgens ins Hotel
kam? Meine Schwiegermutter. Die Midi
saß oft morgens um acht, neun Uhr noch
an der Bar.
Maria Seyrling: Ja, ja. Ich habe früher
gern durchgemacht.
Alois Seyrling: Die Midi war und ist die
Grande Dame des Hauses. Der Opa war
der Chef im Hintergrund. Und er war
zuständig für die gesamte Dorfpolitik und
das Bauwesen.
Maria Seyrling: Mein Mann war erst 78,
als er starb.
Alois Seyrling: Nach dir, Midi, fragen die
Gäste heute noch, obwohl du seit 20 Jah-
ren nicht mehr im operativen Geschäft
bist. Mit der Rose im Dekolleté, deinem
Markenzeichen, warst du schon eine
beeindruckende Erscheinung.
Cristina Seyrling: Meine Schwiegermutter
ist jeden Abend von Tisch zu Tisch gegan-
gen und hat ausnahmslos jeden Gast per-
sönlich begrüßt. Sei es im À-la-carte-Res-
taurant oder im Speisesaal. Das allein
dauerte insgesamt zwei bis drei Stunden.
Maria Seyrling: Heute gibt’s das nicht mehr.
Cristina Seyrling: Du warst für die Gäs-
te und die Mitarbeiter zuständig. Mein
Schwiegervater hat ab und zu Kontrolle
gemacht und sich abends zurückgezogen.
Maria Seyrling: Ich habe das gesamte
Personal beim Namen gekannt, wuss-
te, wo jeder Einzelne arbeitet und wo er
herkommt.
Alois Seyrling: Die Oma ist für mich eine
Visionärin. Sie führte auch eine Gäste-
datei, in der sie penibel festhielt, was sie
über jeden Gast wusste.

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Sich nicht mehr


einmischen hat


schon etwas Gutes


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Maria Seyrling

Genießer Mutter und Sohn im Weinkeller,
der 1516 entstand
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