Focus - 24.08.2019

(Brent) #1
WIRTSCHAFT

60 FOCUS 35/2019

Die chinesische Führung setzt Unternehmen unter Druck. Sie


schadet ihrem wichtigsten Finanzplatz – und sich selbst


Hongkong, der sichere Hafen


der roten Bonzen


E


s wäre der wohl spektaku-
lärste Börsengang des Jah-
res geworden: Alibaba, Chi-
nas größter Online-Händler,
wollte dieser Tage seine
rund 15 Milliarden US-Dollar
schwere Zweitlistung an der
Hongkonger Börse verkünden. Doch die-
sen Plan zog Firmengründer Jack Ma in
letzter Minute zurück. Eine Erklärung
gab der Internet-Riese nicht, Finanz-
Insider in Hongkong sind sich jedoch
sicher: Die Proteste in der Hafenstadt
und Pekings empörte Reaktionen sind
der Grund.
Seit elf Wochen demonstrieren die
Hongkonger für die Bewahrung ihrer
Autonomie, weitgehend friedlich. Doch
vor einigen Tagen eskalierte der Kon-
flikt: Auf dem gesperrten Flughafen der
Metropole feuerte die Polizei mehr als
1000 Tränengasgeschosse ab und nahm
700 Demonstranten fest.
„Die Proteste haben massive Auswir-
kungen auf das Investitionsklima. Hong-
kong wird nicht länger als sicherer Ort
fürs Geschäftemachen wahrgenommen“,
sagt Finanzexperte Andrew Collier, Leiter
von Orient Capital Research. Collier dien-
te einst als Präsident der Bank of China
in den USA, bevor er sich in Hongkong
niederließ. Er gilt als Koryphäe im Finanz-
bereich. Sein Urteil über die derzeitige
Situation ist unmissverständlich: „Jedes
Unternehmen ist zwar unterschiedlich
betroffen, aber allesamt sind sie extrem
vorsichtig geworden, sie wollen Provoka-
tionen gegen Peking vermeiden.“
Aus gutem Grund: Peking fordert
zunehmend Loyalität von den Unterneh-
mensvorständen in Hongkong – auch oder
gerade wenn deren Angestellte auf Seiten

der Demonstranten auf die Straße ziehen.
Mitte August sahen sich die sogenannten
Big Four – die vier größten Wirtschafts-
prüfungsgesellschaften PwC, Deloitte,
KPMG und EY (früher Ernst & Young) –
gezwungen, sich von einer Zeitungswer-
bung ihrer Mitarbeiter in der Hongkon-
ger „Apple Daily“ zu distanzieren. „Wir
werden uns niemals mit Ungerechtigkeit
und Unfairness abfinden“, stand in dieser
Annonce. Das entspreche nicht der Unter-
nehmensposition, ließen die Arbeitgeber
vernehmen. „Wir verurteilen scharf jedes
Statement gegen die nationale Souverä-
nität.“
Der „Global Times“, dem englischspra-
chigen Propagandaorgan Pekings, ging
das nicht weit genug. Die Firmen sollten
„diejenigen Angestellten feuern, die nach-

weislich die falsche Seite in der Hong-
konger Situation eingenommen haben“.

Die große Verunsicherung
Wie ernst die Situation ist, bewies der
Fall Cathay Pacific: Rupert Hogg, Vor-
standschef der Hongkonger Fluglinie, trat
zurück, nachdem mehrere Angestellte
an den Protesten teilgenommen hatten.
Der Druck der chinesischen Führung war
offenbar zu stark geworden.
China statuiere ein Exempel und setze
auf die Signalwirkung, sagt Max Zeng-
lein vom Mercator Institut für China-Stu-
dien in Berlin. Zenglein hörte sich in den
vergangenen Tagen in der ehemaligen
britischen Kronkolonie um und stellte
eine große Verunsicherung fest. „China
politisiert die Wirtschaft. Der internatio-

Börsenbarometer Die Proteste drücken auf die
Kurse der Hongkonger Börse

Regenschirm-Revolution
Rund eine Million Menschen
protestierten voriges
Wochenende für Autonomie
und Demokratie in den
Straßen Hongkongs – bei
strömendem Regen
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