Focus - 24.08.2019

(Brent) #1
BLINDBLIND MOBILITÄT

Foto: Eva Haeberle

62 FOCUS 35/2019

P


hiline Gaffron, 49, hat in
England Ökologie studiert
und ist Oberingenieurin am
Institut für Verkehrsplanung
und Logistik der Techni-
schen Universität Hamburg.
Dort lehrt und forscht sie zu
Themen der nachhaltigen Mobilität und
Umweltgerechtigkeit.

Warum muss der Straßenverkehr
gerechter werden?
Sozioökonomisch benachteiligte Men-
schen sind von der Verkehrsbelastung in
Städten besonders stark betroffen. Sie
leben häufiger an stark befahrenen Stra-
ßen, weil dort die Mieten oft niedriger
sind als im übrigen Stadtgebiet. Aber
es gibt auch eine Benachteiligung bei
der Teilhabe. Weniger gut situierte Men-
schen können sich oft kein Auto leisten.

Und oft ist für sie sogar der Nahverkehr
zu teuer.
Helfen Diesel-Verbote gegen
die Luftverschmutzung?
Punktuelle Fahrverbote haben eher
symbolischen Wert, weil der Verkehr zu-
meist nur umgeleitet wird. Auch die Kon-
trolle solcher Fahrverbote ist ein Problem,
denn die blaue Plakette für Stickoxid-
ausstoß gibt es ja nicht.
Viele Menschen wollen nicht aufs Auto ver-
zichten. Welche Rolle spielt die Psychologie?
Autofahren ist keine rein rationale
Entscheidung. 30 Prozent aller Fahrten
sind kürzer als fünf Kilometer. In Städten
würde man mit anderen Verkehrsträgern
meist schneller von A nach B kommen.
Viele Menschen möchten aber nicht auf
den Bus warten und mit anderen gemein-
sam fahren. Stattdessen sind sie lieber
mit dem eigenen Auto Teil des Staus.

Die Autoindustrie fürchtet bei einer Ver-
kehrswende um ihre Kunden. Zu Recht?
Wenn wir eine Verkehrswende wollen,
brauchen wir wesentlich mehr Busse und
Bahnen. Auf deren Produktion könnte
die Industrie umstellen. Die Wirtschaft
muss bei der Veränderung beteiligt sein,
aber wir können die Verkehrswende
nicht wegen der Industrie verschieben.
Im Gegenteil, wir haben hier doch ei-
gentlich Ingenieurwissen und die Pro-
duktionsanlagen, um sie voranzutreiben.
Angeblich interessieren sich junge Menschen
ohnehin immer weniger für Autos ...
Das Interesse lässt etwas nach, aber das
ist noch kein Einstieg in die Verkehrs-
wende. Viele Verkehrsbetriebe versu-
chen, auch für junge Leute Busse und
Bahnen attraktiver zu machen, indem sie
dort WLAN und Auflademöglichkeiten
für elektronische Geräte anbieten. Sobald
dann aber Kinder da sind, steigt der Auto-
besitz der Haushalte auch heute noch an.
Sind E-Scooter die Lösung?
Ich sehe bislang keine Belege dafür,
dass Menschen deswegen ihr Auto
abschaffen oder stehen lassen. Auch
Auto-Sharing-Angebote ersetzen oft die
Fahrt mit dem Bus oder den Weg mit dem
Rad. Um den Umstieg zu fördern, müssen
wir den individuellen Autoverkehr auch
unattraktiver machen – etwa durch höhe-
re Parkgebühren und weniger Parkraum.
In London und Oslo gibt es schon länger City-
Maut-Systeme. Wie erfolgreich sind diese?
Es hat sich sehr viel verändert, trotz-
dem sind diese Städte heute nicht auto-
frei. In Norwegen diente die Gebühr vor
allem dazu, Verkehrsinfrastruktur besser
instand halten zu können. In London ist
der Busverkehr schneller geworden, und
die Luftqualität hat sich verbessert.
Auf dem Land fahren Busse und Bahnen zu
selten, um den privaten Autoverkehr zu er-
setzen. Welche Lösungen sehen Sie für dort?
Wir brauchen deutlich mehr regiona-
le Schienenverkehre. Außerdem muss
dort der Nahverkehr flexibler werden,
statt – oft fast leer – nur nach Fahrplan
zu fahren. Bürgerbusse, Rufbusse oder
Sammeltaxis sind oft gute Alternativen.
Und wir müssen auch über Alternativen
zu manchen Wegen nachdenken. Eine
Video-Sprechstunde kann zum Beispiel
die Fahrt zum Arzt ersparen. Wenn uns
in der Stadt die Verkehrswende gelingt,
ist es nicht so schlimm, wenn auf dem
Land noch Autos fahren. n

INTERVIEW: HELMUT BROEG

Die Verkehrswende


muss auch gerecht


sein. Wie sie gelingen


kann, beschreibt


die Ingenieurin


Philine Gaffron


Wem


gehört die


Straße?


WIRTSCHAFT

Alternativ mobil
Philine Gaffron nutzt
täglich den öffent-
lichen Nahverkehr und
ihr Fahrrad. Sie hofft
auf die Entwicklung
nachhaltig herge-
stellter Batterien für
die E-Mobilität
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