Focus - 24.08.2019

(Brent) #1
KOLUMNE

FOCUS 35/2019 7

Den Autor dieser Kolumne erreichen Sie unter:
[email protected], Twitter: @janfleischhauer

Jeder Kanzler hält sich
für unersetzlich
Illustration
von Silke Werzinger

JAN FLEISCHHAUER


Gendertoiletten verteidigte, statt sich dafür, wie erwar-
tet, zu entschuldigen. Nicht weil ich den Witz über-
ragend fand. Sondern weil ich es immer etwas armse-
lig finde, wenn konservative Politiker in die Knie gehen,
sobald drei kritische Kommentare auf „Spiegel online“
erscheinen.
70 Prozent der Deutschen haben nichts gegen schlechte
Witze zu Karneval, so wie 70 Prozent auch nicht finden,
dass jemand Grund zur Entschuldigung hat, wenn er auf

die Integrationsprobleme in deutschen Schulen hinweist.
Ein Gutteil der Leute ist noch nicht einmal der Meinung,
dass ein Fußballboss untragbar geworden ist, weil er sich
über die Vorzüge einer Elektrifizierung des afrikanischen
Kontinents ausgelassen hat. Im Zweifel denken sie sich:
„Der Mann ist Schlachtermeister. So einer drückt sich nun
einmal etwas ungelenk aus. In der Sache hat er doch gar
nicht so Unrecht.“

E


s herrscht ein großes Bedürfnis nach Politikern,
die sagen, was ist, statt so zu reden, dass sie den
Journalisten imponieren, die ihnen in Kommen-
taren dann Kopfnoten erteilen. Viele Menschen
haben den Eindruck, dass es zwei Wirklichkeiten gibt,
die sich immer weiter voneinander entfernen.
Es gibt ihre Lebenswirklichkeit mit handfesten
Problemen, wo man schon dankbar wäre, wenn
der Staat für das viele Geld, das er einzieht,
seine Aufgaben ordentlich erledigen würde. Und
es existiert eine mediale Wirklichkeit, in der es
vor allem um das richtige Betragen geht und
in der ein falsches Wort genügt, um in
Teufels Küche zu kommen. Was einer
Partei passiert, wenn sie die beiden
Welten verwechselt, hat die SPD
vorgeführt. Die CDU ist drauf
und dran, der Sozialdemokratie
auf ihrem Weg nach unten zu
folgen.
Man soll sich als Journalist mit
Prognosen zurückhalten. Aber
in dem Fall gehe ich das Risiko ein:
Ich glaube nicht mehr daran, dass
die CDU mit Frau Kramp-Karrenbauer
als Kanzlerkandidatin ins Rennen gehen
wird. So viel Überlebenswillen steckt in der
Partei dann doch, würde ich sagen.
Wer nicht klar redet, der denkt in der Regel
auch nicht klar, das ist jedenfalls meine Erfah-
rung. Es ist ein groteskes Missverständnis zu
glauben, weil die Dinge komplex sind, müsse
man sich auch möglichst unverständlich ausdrü-
cken. Das Gegenteil ist richtig.
Klares Denken steht noch vor klarem Sprechen.
Von einem Kandidaten, der will, dass ihm die Menschen
Entscheidungen über ihre Zukunft anvertrauen, wird
beides erwartet. n
Free download pdf