Focus - 24.08.2019

(Brent) #1
WISSEN

72 FOCUS 35/2019

W


enn Hans Ulrich Gum-
brecht an ein Redner-
pult tritt, hat er weder
Papier in der Hand
noch eine von Pro-
fessoren eigentlich so
geliebte Power-Point-
Präsen tation vorbereitet. Er redet frei, mit
bassiger Stimme, die so cool klingt wie
das Thema, über das er inzwischen oft
spricht: Silicon Valley. Der Ort, an dem
er seit 30 Jahren lebt und bis vor Kurzem
an der Elite-Universität Stanford Literatur
gelehrt hat. Diesem Ort hat der 71-Jährige
ein ganzes Buch gewidmet: „Weltgeist im
Silicon Valley“ (NZZ Libero, 2018). Ein
Buch, das nicht gerade jene Perspekti-
ve auf Technologie eröffnet, die man von
einem europäischen Intellektuellen ohne
Smartphone erwarten würde. Von Angst
und Fehlervermeidungskultur hält er
nämlich nichts. Er feiert die Digital denker,
die sich nicht aufhalten lassen.

Professor Gumbrecht, in Ihrem Buch
greifen Sie auf den Philosophen Hegel
zurück und nennen das Silicon Valley
den Ort, an dem der Weltgeist sichtbar
wird. Was genau meinen Sie damit?
Mich fasziniert diese Vorstellung, den
Weltgeist an einem Ort zu suchen, weil
man den Geist ja erst mal nicht mit einem
Ort assoziiert. Hegel sah 1806 Napoleon,
der gerade Deutschland unterworfen hat-
te, durch Jena reiten und schrieb: „Ich
habe den Weltgeist auf dem Pferderü-
cken gesehen.“ Nun ist die Idee, dass
sich Hegel für die heutige Tech-Industrie
interessieren könnte, eher absurd. Aber
trotzdem, 200 Jahre später artikuliert sich
der Weltgeist eben auf diese neue Art und
Weise. Das Silicon Valley ist das intellek-
tuelle Zentrum der Welt.
Inwiefern intellektuell?
Auf engem Raum sind hier in den letz-
ten Jahren Dinge entstanden, die die Welt
komplett verändert haben, unseren Alltag.
Die Programmierer schreiben dort besser
Code als irgendwo anders auf der Welt.
Und können nicht erklären, warum.
Die Firmen, die im Silicon Valley sitzen,
haben eine ungeheure Macht. Einige Leute
glauben sogar, dass Plattformen wie Face-
book die Demokratie zerstört haben. Müssen
die Tech-Konzerne reguliert werden?
Absichtlich will hier niemand die
Demokratie zerstören. Daran glaube ich
nicht. Die parlamentarische Demokratie
hat ihre Probleme heute aus zwei Grün-
den. Die Zahl der Leute, die von einem
Abgeordneten vertreten werden, ist seit
dem 18. Jahrhundert enorm gewachsen.

Herr Gumbrecht, sind


Programmierer die neuen


Philosophen?


Kaum jemand weiß besser, wie die US-Tech-Helden ticken,


als Hans Ulrich Gumbrecht. In seinem Buch „Weltgeist im


Silicon Valley“ erzählt er vom Ehrgeiz, die Welt umzubauen


INTERVIEW VON CORINNA BAIER

Weltversteher
Hans Ulrich Gumbrecht,
71, ist emeritierter
Professor für Literatur
an der Stanford Univer-
sity und Autor mit kla-
rem Blick auf die Gesell-
schaft. In seinem Werk
„Brüchige Gegenwart“
beschreibt der gebürtige
Würzburger unser
gewohntes Weltbild, das
sich gerade auflöst
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