Focus - 24.08.2019

(Brent) #1
DIGITALISIERUNG

Fotos: Raffael Waldner/13 Photo


FOCUS 35/2019 73

Früher konnte sich jeder Parlamentarier
mit den Menschen unterhalten, die er
repräsentierte. Das hat sich verändert.
Durch die sozialen Medien gibt es aber
gleichzeitig eine Unmittelbarkeit, die so
nie zuvor existiert hat. Resonanz spielt
dann plötzlich eine große Rolle. Trump
etwa ist ein Resonanzphänomen. Die
Leute glauben, dass sie ihn kennen. Zu
viel vermeintliche Nähe und gleichzei-
tig zu viel Distanz. Aber ja, man muss
aufpassen. Die wichtigen Figuren wie
Mark Zuckerberg oder Elon Musk sind
ja mittlerweile Trump-Gegner. Es gibt
wohl leider keine signifikante Verbin-
dung zwischen dem Weißen Haus und
den Protagonisten im Silicon Valley.
Leider?
Na ja, nicht leider. Ich selbst finde
Trump schon aus ästhetischen Gründen
schrecklich. Ich muss als Amerikaner das
Gesicht ja sehr oft sehen. Dennoch halte
ich ihn aber nicht so zentral für die Ver-
körperung allen Übels, wie das andere
tun. Zum Beispiel glaube ich nicht, dass er
rechts oder links ist. Er ist ein Resonanz-
genie und funktioniert bei Leuten, die sich
abgehängt fühlen. Und das ist natürlich
kein rein amerikanisches Phänomen. Das
gilt auch für Bolsonaro in Brasilien.
Verstärkt durch die sozialen Medien. Haben
die jungen Programmierer eine höhere Moral
als die Zuckerbergs der ersten Generation?
Ich kenne einen deutschen Unterneh-
mer, der mit dem jungen Zuckerberg
befreundet war. Wenn ich seine Beschrei-
bungen höre, kommt er mir vor wie mei-
ne Stanford-Studenten, die heute die
Welt umprogrammieren, aber noch nicht
bekannt sind. Erst in dem Moment, wenn
die Leute aufhören, leidenschaftlich Code
zu schreiben, fühlen sie sich verpflichtet,
im Namen des Silicon Valley zu spre-
chen. Sie reden dann in sozialdemokra-
tischen Gemeinplätzen, die gut gemeint
sind, aber zu nichts führen. Wohingegen
die jungen Leute, die nur coden, etwas
behaupten: Armut oder den Tod muss
es nicht geben – sie wollen das mithilfe
künstlicher Intelligenz umsetzen. Schwer
vorstellbar. Die Jungen funktionieren
anders als Musk oder Zuckerberg.
Vergleichbar mit: Wer mit 18 nicht links
wählt, hat kein Herz, wer es mit 30 noch
immer tut, hat keinen Verstand ...
Nicht ganz. Die jungen Leute program-
mieren, weil sie es müssen. Nicht weil sie
die Welt retten wollen. Sie wollen Armut
abschaffen, weil es möglich ist. Das ist
wie ein Level in einem Computerspiel.
Wären Sie eigentlich Programmierer,
wenn Sie heute jung wären?

„Die Lähmung der deutschen Industrie


wäre kuriert, wenn man nicht dauernd


über Ethik reden würde“ Hans Ulrich Gumbrecht


Ich weiß nicht. Aber die Passion, die
diese jungen Leute haben, imponiert mir.
Egal, was passiert, sie müssen so arbei-
ten. Dabei spielen weder Gehalt noch
Arbeitszeit eine Rolle. Es ist eine Passion,
die man mit dem jungen Beethoven, Höl-
derlin oder Hegel vergleichen kann.
Sind Programmierer die neuen Philosophen?
Code schreiben oder Programmieren
ist erst einmal eine Art zu denken. Auch
wenn es sicherlich eine andere ist als bei
Descartes oder Kant.
Da Sie gerade Kant erwähnen: Google
hat einst den Slogan „Don’t be evil“ als
Grundsatz formuliert. Brauchen wir
einen solchen kategorischen Imperativ,
eine Ethik für die Digitalisierung?
Ich war gerade zwei Wochen in Deutsch-
land und kann das Wort Ethik – wie immer


  • kaum mehr hören. Die Lähmung der
    deutschen Intelligenz und Industrie in
    Sachen Technologie wäre wahrscheinlich
    schon kuriert, wenn man sich nicht dau-
    ernd Gedanken um die Ethik machen und
    nationale Programme auflegen würde.
    Ich halte unkontrolliertes Wachstum im
    Technologiebereich für gefährlicher.
    Ich sehe das so: 82 Millionen Deutsche
    haben sich an einen gewissen Lebens-
    standard gewöhnt, und wenn sie weiter –
    ich zitiere jetzt einen deutschen Wirt-
    schaftskapitän – Weltmeister der Zahn-
    radindustrie bleiben, wird sich das bald
    ändern. Dann wird Deutschland abge-
    hängt. Es gibt Leute in Europa, die sagen,
    man sollte sofort den Stecker ziehen bei
    der Entwicklung von künstlicher Intelli-


genz, weil es zu gefährlich ist. Abgese-
hen davon, dass es ohnehin nicht passie-
ren würde, ist das zu kategorial gedacht.
Vielleicht kann man der künstlichen Intel-
ligenz ein Gewissen einprogrammieren.
Und wer programmiert sie? Dieser Ge-
danke würde meinen ehemaligen Stu-
denten gefallen.
Kennen Sie die Netflix-Serie „Black Mirror“?
Ich kenne gar keine Netflix-Serien.
Sie handelt von den dramatischen
Konsequenzen einer hyperdigitali-
sierten Gesellschaft. Die Angst davor
ist auch bei jungen Menschen da.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass
solche allzu kohärenten Versionen der

Zukunft eintreten. Ich hoffe, dass Fami-
lien wieder wenigstens einmal am Tag
zusammensitzen. Dass Leute, die sich
lieben, spontan verreisen. Momente der
Unmittelbarkeit haben. Dass man alles
stehen und liegen lässt, weil man jeman-
dem helfen will. Ich wünsche mir, dass
diese Effekte der Präsenz, das gegensei-
tige Berühren, nicht verschwinden.
Haben Tech-Konzerne eigentlich die
Rolle der Religion eingenommen?
Niemand geht mehr in die Kirchen, aber
die Kirchentage sind stärker besucht als
je zuvor hier in Deutschland. Religion als
individuelle Option scheint gerade unter
elektronischen Bedingungen eine star-
ke Zukunft zu haben. Meine These: Was
die elektronische Technologie erschafft,
ist eine relativ ideenlose Welt von hoher
Intensität, in der man dauernd glaubt, dass
man keine Zeit hat, obwohl im histori-
schen Vergleich das Gegenteil der Fall
ist. Als meine Kinder Teenager waren,
brauchten sie den ganzen Donnerstag, um
das Wochenende zu planen, und den gan-
zen Montag, um darüber zu trauern, dass
es doch nicht das Richtige geworden war.
FOMO nennt man das. Fear of missing out.
Die Technologie gibt dir keine Weltbil-
der. Ich als Agnostiker glaube nicht daran,
dass die Religionen im
klassischen Sinne tot
sind.
Sie werden individu-
eller. Man sucht sich
das Wertesystem wie
am Büfett zusammen.

Schöne Metapher. Ich würde den tradi-
tionellen Religionen in vielerlei Hinsicht
mehr zutrauen als Google oder Facebook.
Aber mit der KI schaffen wir
etwas Gottähnliches, wenn wir
die Singularität erreichen.
Das könnte auch ein böser Gott sein,
der da entsteht. Mein schlimmster Alb-
traum ist, dass er uns nicht auslöschen
will, sondern niedlich findet und sieben
Milliarden Menschen in einen giganti-
schen Streichelzoo sperrt. Aber das ist ja
wirklich nicht die Religion, von der wir
gerade gesprochen haben. Denn da geht
es um Sinnvorgaben. Viele Leute brau-
chen das – einen Sinn zum Leben. n
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