Focus - 24.08.2019

(Brent) #1
88 FOCUS 35/2019

KULTUR

Eher aus Zufall schrieb Literaturprofessor André Aciman


den Weltbestseller „Call Me by Your Name“ über eine


schwule Romanze. Im neuen Buch bleibt er dem Thema treu


Liebe und all die


anderen Verwirrungen


der Herzen


I


m Sommer 2016 bekam der Schrift-
steller André Aciman unverhofft
eine Kinorolle. Er war aus New
York nach Norditalien gereist,
wo sein Roman „Call Me by Your
Name“ verfilmt wurde. Aciman
war müde und hatte einen Jetlag,
stand aber trotzdem wenig später
auf einer mittagsheißen Piazza.
Die Schauspieler Timothée Chalamet
und Armie Hammer führten dort gerade
eine komplizierte schwule Flirtszene auf.
Aciman wollte sich nicht einmischen, er
wäre sich wie ein Eindringling vorgekom-
men. Dann aber änderte sich der Dreh-
plan, und plötzlich fehlten Schauspieler.
Kurzerhand sprang er mit dem Produzen-
ten Peter Spears als älteres Liebespaar
ein: pastellfarbene Anzüge, gemusterte
Fliegen, Blume am Revers. Gemeinsam
brausten sie im weißen Citroën heran, es
gab eine Tischszene, schließlich Klavier-
musik. Nach gut einer Stunde war alles ge-
filmt. „Es ging so schnell, dass ich kaum da-
rüber nachdenken konnte“, sagt Aciman.

„Eigentlich sollten Schriftsteller rein gar
nichts mit Filmen am Hut haben.“
Als „Call Me by Your Name“ ein Jahr
später ins Kino kam, verhalf der Film
allen Beteiligten zu Hollywood-Ruhm.
Zu Recht, es ist ein bestürzend schöner
Film. Es geht um Elio, der 17 ist und
sich in Oliver verliebt, den amerikani-
schen Sommergast seiner Eltern. Aciman
hatte die Geschichte zehn Jahre zuvor
geschrieben, es war sein erster Roman.
Der Regisseur Luca Guadagnino, der
zuvor schon elegant durchgeplante Filme
wie „A Bigger Splash“ und „I Am Love“
gedreht hatte, machte ihn zur Hommage
an träge Sommertage, italienische Land-
villen und – man schreibt das Jahr 1983 –
Poloshirts und Italo-Pop. Es gibt reichlich

reifes Obst und eine Masturbationsszene
mit Pfirsich. Viermal wurde der Film für
den Oscar nominiert. Er gewann einen für
das beste adaptierte Drehbuch.
Und André Aciman war plötzlich Best-
sellerautor. „Wenn ich das gewusst hätte“,
sagt er, „hätte ich wohl ein anderes Buch
geschrieben. Ein zahmeres.“ Aciman, ein
Proust-Experte, hatte „Call Me by Your
Name“ innerhalb weniger Monate ver-
fasst, als ein Italien-Urlaub ins Wasser
fiel. „Ich habe mir einfach einen Spaß
gemacht und streute diese Pfirsich-Szene
ein, von der ich dachte, dass sie nie und
nimmer veröffentlicht werden würde, weil
man sie so unerhört finden würde.“ Doch
Acimans Verleger beschwerten sich nicht,
das Buch ging in Druck. Inzwischen las-

sen sich Hardcore-Fans seine Zeilen auf
den Körper tätowieren.
André Aciman ist Ende 60, ein klei-
ner Mann mit kurzem Haar und hel-
lem Hemd. Als Kind jüdischer Eltern
wuchs er im ägyptischen Alexandria
auf, wo seine Familie eine Textilfabrik
besaß. Es war eine kosmopolitische
Jugend, in wohlhabenden Kreisen lebte
man modern. „Die Stadt war extrem
westlich in ihren Werten, vielleicht west-
licher als der Westen selbst.“ Alles hätte
sehr angenehm sein können, wäre da
nicht die Politik gewesen. Unter Prä-
sident Gamal Abd el-Nasser nahmen
die antisemitischen Repressalien zu, die
Stimmung war feindselig bis gewalttätig.
„Als ich 14 war“, sagt Aciman, „waren

Feingeist AutorAndré Aciman, 68
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