FOTO: PAOLO DUTTO/13 PHOTOAuch wenn sich die Interviewpart-
ner selten einig waren – ein interes-
sant zu lesender Debattenbeitrag
ist Dobellis „Die Kunst des digita-
len Lebens“ allemal. Piper, 20 Euro,
ab 2.9. im Handel 22222versums „informieren“. Die Frage ist nur:
Was bringt mir das?
Also wenn irgendwo an der belgischen
Grenze eines von deren schrottigen
Kernkraftwerken hochgeht, würde ich
das als Einwohner von Aachen schon
gern zeitnah erfahren.
Das werden Sie auch. Irgendjemand wird
es Ihnen rechtzeitig sagen.
Weil er oder sie informiert ist.
Vor allem weil die Behörden entsprechen-
de Maßnahmen ergreifen. Sie haben hier
ein krasses Beispiel gewählt. Aber Ihre
Angst, etwas zu verpassen, ist unbegrün-
det. Ich habe in neun Jahren nichts wirk-
lich Wichtiges verpasst.
Ich diskutiere gern mit Leuten, die gut
informiert sind. Sie nicht?
Jetzt kommen Sie schon wieder mit die-
sem seltsamen Wort. Was heißt denn infor-
miert? Ich diskutiere gern mit Menschen,
die etwas wissen und verstehen, am bes-
ten mit Experten.
Aber so ist die Welt doch nicht. Wir haben
nicht alle die Gelegenheit, ständig mit
Experten zu reden, und wir können nicht
dauernd Sachbücher durchackern, bevor
wir uns äußern.
Das stimmt. Ich versuche auch nicht,
24 Stunden am Tag die Welt zu verstehen,
und diskutiere auch nicht ständig mit Pro-
fessoren. Ich habe auch überhaupt nichts
gegen Zerstreuung und Unterhaltung.
Ich schaue auch Filme und lese Romane.mehr gesehen, keine Nachrichten mehr im
Radio gehört, mich von keinen Online-
News mehr berieseln lassen.
Und geht es Ihnen seitdem besser?
Deutlich. Es gab eine kurze Entwöhnungs-
phase, aber ich vermisse nichts. Im Gegen-
teil, ich bin weniger nervös, ich denke kla-
rer und habe jetzt mehr Zeit, mich mit
wirklich interessanten Themen tiefer ge-
hend zu beschäftigen.
Katastrophenberichte erzeugen falsches,
weil wirkungsloses Mitleid, sagen Sie.
Ich bin im Kuratorium der Stiftung stern
und kann Ihnen versichern: Unsere
Leserinnen und Leser spenden, wenn sie
so etwas lesen.
Das ist in diesem Fall schön und freut
mich. Dennoch glaube ich, dass die regel-
mäßige Unterstützung einer Hilfsorgani-
sation grundsätzlich sinnvoller ist, als auf
jede einzelne Katastrophe zu reagieren.
Denn so ist Ihr Geld am effizientesten ein-
gesetzt.
Aber dafür muss man wissen, was in der
Welt passiert. Ich verstehe immer noch
nicht, was Sie dagegen haben, jeden Tag
eine Zeitung zu lesen oder die „Tages-
schau“ zu gucken.
Weil auch das in dieser Ritualisierung zu
viel und meist zu wenig relevant ist. Ich be-
vorzuge dagegen die lange Form: ausge-
ruhte Zeitungs- und Zeitschriftenartikel,
Essays, Reportagen, Dokumentarsendun-
gen und natürlich Sachbücher. Ich will vor
allem in die Tiefe gehen. Nur dann begreift
man Zusammenhänge. Man versteht den
Syrienkrieg nicht, wenn man über Jahre
jeden Tag eine kurze Meldung dazu hört,
wohl aber, wenn man Bücher oder Hinter-
grundberichte darüber liest. Wir vertau-
schen systematisch das Neue gegen das
Relevante.
Können Sie akzeptieren, dass die Nach-
richt, dass es bald eine neue Staffel einer
beliebten TV-Serie gibt, vielleicht nicht
für Sie, aber für viele andere Menschen
eine interessante Neuigkeit ist?
Das kann ich. Aber das erfahren Sie schon
irgendwann. Dafür müssen Sie nicht un-
unterbrochen in News baden.
Es gibt die Eröffnungsfloskel „Sag mal,
hast du schon gehört ...?“ So beginnen
Gespräche. Sind News nicht auch ein so-
ziales Schmiermittel?
Das sind sie. Ebenso wie Sport und Unter-
haltung oder das Wetter. Es gibt viele
Schmiermittel. Aber man muss nicht un-
bedingt mit News schmieren.
Wollen Sie nicht mehr informiert sein?
Informiert ist wirklich ein blödes, sehr
unscharfes Wort. Ich kann mich 24 Stun-
den am Tag über alle Aspekte des Uni-Da bin ich erleichtert.
Mir geht es um etwas anderes: Ich will
dieser Heiligsprechung der News etwas
entgegenstellen. Ich verlange eigentlich
nicht viel von den Menschen, sondern eher
weniger. Es geht ums Weglassen.
Sie raten Ihren Lesern, stets in ihrem
„Kompetenzkreis“ zu bleiben. Also da,
wo sie gut sind und sich auskennen.
Sie schreiben: „Alle Informationen, die
in Ihren Kompetenzkreis passen, sind
wertvoll. Alle, die außerhalb Ihres Kom-
petenzkreises liegen, ignorieren Sie
besser.“ Das klingt für mich nach Filter-
blase: Nimm nur wahr, was in dein Welt-
bild passt.
So meine ich das nicht. Es geht nicht um
Weltanschauungen und Ideologien, son-
dern um die Bereiche des Lebens, die für
einen relevant sind und in denen man eine
gewisse Meisterschaft erlangen will. Und
um dahin zu kommen, sind abweichende
Meinungen wichtig. Sie zwingen mich,
meine Positionen zu verteidigen und mei-
ne Kenntnisse zu erweitern. So funktio-
niert auch die Wissenschaft.
Ich sehe eine Welt voller Fachidioten.
Und ich eine von mündigen Bürgern, die
ihre Fähigkeiten und Kenntnisse optimal
einsetzen. Jeder Mensch hat einen Kompe-
tenzkreis. Jeder sollte sich fragen: Was
kann ich? Was will ich? Und welche Infor-
mationen brauche ich dazu?
Manchmal klingen Ihre Sätze fast wie
die Beschwörung einer Biedermeier-
Idylle: Zieht euch ins Private zurück.
Bleibt zu Hause im Sessel und lest Sach-
bücher.
Gerade der, der in seinem Kompetenzkreis
gut ist, kann draußen in der Welt viel
erreichen, sich selbstbewusst in Gespräche
einschalten, teilhaben. Der einsame News-
Konsument am Handy in der S-Bahn oder
zu Hause am PC ist für mich viel eher der
zurückgezogene Biedermeier-Typ. Ich sage:
Bauen Sie Ihren Kompetenzkreis aus.
Gehen Sie raus in die Welt. Schaffen Sie
etwas. Versuchen Sie, in irgendeinem Be-
reich überdurchschnittlich zu sein. News
konsumieren – das kann jeder. Dafür
muss man nicht mal denken können. Aber
in seinem Kompetenzkreis etwas zu schaf-
fen, das ist schwieriger. Und tausendmal
wertvoller. Dann haben Sie der Welt schon
viel geliefert. 2Dobelli empfindet den
Verzicht als Gewinn„Der einsame
News-Konsument am
Handy ist ein
Biedermeier-Typ“
108 29.8.2019KULTUR