Der Stern - 29.08.2019

(Tina Meador) #1

an. Greise reiten auf Eseln durchs Dorf,


abends sitzen die Familien auf Plastik-


stühlen vor ihren Häusern, die Gassen sind


ihre Wohnzimmer. Es ist das Leben, das


Athener aus den Erzählungen ihrer Groß-


eltern kennen. Natürlicher, gesünder,


glücklicher. Die Insel als Gegenteil von


Athen. Ein Ort frei von Stress.


Nach Kimolos gibt es nur eine Fähre. Auf

der Insel gibt es: einen Hafen, ein Dorf,


einen Polizisten, ein Bus, ein Taxi. Das Taxi


fährt eine Frau.


Mitten im Dorf liegt das „Kali Kardia“,


das gute Herz, morgens ein Café, später


Taverne, vor allem aber Wohnzimmer


der Insulaner seit 1920. Apostolis Ver -


douris führt es in dritter Generation,


im Keller arbeitet er dazu auch noch als


Friseur. „Die Menschen kommen hierher


und schütten das Herz bei ihren Freunden


aus“, sagt er.


Kneipensterben kennt Griechenland


kaum. Das Kafeneio, wie sie das Café nen-


nen, ist den Griechen auf dem Land fast ein


Therapie-Ersatz, es hat ihnen durch die


Krise geholfen. „Sie reden über Politik“, sagt


Verdouris, aber nicht nur. „Über die Arbeit.


Über die Familie. Über alles.“


Kimolos hatte mal mehr Einwohner.
Drei Fischer sind noch übrig. Die Jungen
gehen weg, das ist hier nicht anders als in
der deutschen Provinz. Wer will hier leben,
wo im Winter die Fähre nur dreimal die
Woche kommt oder manchmal, wenn es
stürmt, gar nicht?

Fotis Marinakis ist jetzt 37, er ist in Pirä-
us geboren, hat in Thessaloniki studiert,
jetzt lebt er auf Kimolos. Das ganze Jahr
über. Er sagt, er will nie mehr weg. Marina-
kis hat kurz hintereinander seine Mutter
und seinen Vater verloren. Sie waren auf
der Insel geboren und wurden hier begra-
ben, und Fotis wollte ihnen nah sein. Er
kehrte nach Kimolos zurück und renovier-
te das Haus seiner Großeltern.
Der Tod der Eltern, sie waren noch nicht
alt, hatte ihn in eine Depression gestürzt.
Es waren die ersten Krisenjahre, das ganze
Land war schwermütig. Marinakis erzählt

von dem, was er seine Rettung nennt. Die
Gemeinde Kimolos, auch sie von der Krise
betroffen, suchte Freiwillige. Leute, die
Wege erneuern, Müll wegräumen. Öffent-
liche Aufgaben eigentlich.
Es entstanden die „Kimolistes“, eine Bür-
gerbewegung für die Insel. Marinakis sagt,
dank der Kimolistes habe er seine Depres-
sion überwunden. Erst sammelte er in
Athen Bücher und platzierte über Kimo-
los verteilt offene Bücherregale. Er organi-
sierte gemeinsame Wanderungen. An
einem der Winterabende schließlich, die er
zu Hause verbrachte, Filme schauend, kam
er auf die Idee mit dem Kino.
Alle paar Tage, wenn es windstill ist, baut
Marinakis nun eine Leinwand auf. Mal
oben in der Burg, mal in einer Gasse, mal
an einem Strand. Für die Jungen postet er
das Programm in der Facebook-Gruppe der
Kimolistes, für die Alten geht er mit einem
Megafon durch die Gassen.
Abends um neun sitzen die Menschen
dann auf Plastikstühlen, umgeben von
kleinen Laternen, schauen einen italieni-
schen 70er-Jahre-Film oder einen neuen
Hollywood-Blockbuster. Sie spüren den
Sommer und dass ihre Insel noch lebt.

DAS LEBEN HIER IST


WIE AUF EINEM


ANDEREN PLANETEN


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