Der Stern - 29.08.2019

(Tina Meador) #1
M

ehr Westen geht
nicht als an die-
sem Mittwoch im
August, hier, tief
im Osten. Auf der
provisorisch ein-
gerichteten Büh-
ne in einer Ten-
nishalle in Freital
steht Waldemar
„Waldi“ Hartmann und macht mit
bajuwarischer Kumpelhaftigkeit
Wahlkampf für Sachsens Minister-
präsident Michael Kretschmer, CDU.
Waldi ist eine Figur der deutschen
Fernsehgeschichte, seit er 2003 die
Schimpftirade Rudi Völlers vor lau-
fender Kamera weitgehend hilflos
flankierte, wonach im deutschen
Sportjournalismus nur „Scheiße ge-
labert“ werde und er, Hartmann,
sowieso schon drei Weizenbier in-
tus habe.
Es war auch ein Akt öffentlicher
Demütigung. Hartmann aber mach-
te das Beste draus: Er machte sich
zur Kultfigur.
An diesem Sonntag wird in Sach-
sen und in Brandenburg gewählt,
sprich: im Osten. Man muss kein
Prophet sein, um zu prognostizie-
ren, dass die Wahlergebnisse die
Republik nachhaltig in Wallung ver-
setzen werden, sprich: den Westen.
Hartmann sieht das übrigens ge-
nauso. Anfang September zieht er
mit seiner Frau nach Leipzig um.
Waldi will schon im eigenen Interes-
se nicht, „dass sich die braune Soße
im Freistaat weiter ausbreitet“.
Typisch Wessi? Könnte man sagen.
Kippt mit dem ersten Grüß Gott sei-
nen gut gemeinten Alarmismus pa-
ternalistisch über das Sachsen-Volk.
Und typisch stern. Beginnt den
Text über Sachsen mit dem einzigen
Wessi, der in der ganzen Reportage
namentlich überhaupt auftauchen
wird. Gerecht ist das nicht.
Aber fair sollte es schon sein, das
Bild von einem Land, das man am
Vorabend einer Wahl zeichnet.
Selbst dann, wenn ein politisches
Erdbeben droht. Wahrscheinlich
wird sich in Sachsen mehr als ein
Viertel der Wähler für die rechts-
populistische AfD entscheiden, das
wäre Volkspartei-Stärke. Ausge-
rechnet im 30. Jahr nach Mauerfall
steuert der Freistaat auf einen Zu-
stand der Unregierbarkeit zu. In der
Landesregierung wird zusammen-
wachsen müssen, was eigentlich
nicht zusammengehört, allein um
eine Beteiligung der AfD an der

Macht zu verhindern. Glaubt man
den Demoskopen, könnte es knapp
reichen für eine Koalition aus CDU,
Grünen und SPD. Sicher ist selbst
das nicht.
Was ist los in Sachsen? Woher
kommt die Wut aufs Establishment,
woher die Verachtung für das Sys-
tem, die in Teilen zu einer Abkehr
von der Demokratie geführt hat?
Bei der Suche nach Versäumnis-
sen auf dem Weg zur deutschen
Einheit hat sich der stern Expertise
an seine Seite geholt, von Karin
Großmann, Chef-Reporterin bei der
„Sächsischen Zeitung“, die wie das
Wochenmagazin im Verlag Gruner
+ Jahr erscheint. Gemeinsam mit
stern-Reporter Axel Vornbäumen
und Fotograf Benjamin Zibner hat
sie jenes Bundesland bereist, das ihr
Land ist. Ihre Heimat.
Das verändert den Blick, erweitert
die Erkenntnis. Man muss sich
nichts vormachen, es gibt sie immer
noch: die Ost- und die Westsicht.
Und es ist auch ein Kampf um Deu-
tungshoheit und Selbstbehauptung.
In Hoyerswerda wird die Archi-
tektin Dorit Baumeister sagen:
„Man hat noch immer das O davor.“
Was heißt, man wird noch immer als
Ostdeutscher wahrgenommen. Und
es heißt auch, dass man damit im
Freistaat Sachsen geringere Chan-
cen auf eine Karriere hat. Der Inten-
dant des Staatsschauspiels, der Lei-
ter des Dresdner Kreuzchors, der
Präsident der Sächsischen Akade-
mie der Künste – alle aus dem Wes-
ten. In diesem Frühjahr waren die
Chefsessel beim Sachsenforst und
beim Landesamt für Statistik neu zu
besetzen. Forstwirtschaft wird in
Sachsen seit 1811 gelehrt. Der Neue
kommt aus dem Schwarzwald. Das
Statistikamt sitzt in Kamenz. Die
Neue kommt vom Neckar.
Bleibt alles anders, nach dem
Wahlsonntag in Sachsen? Das Re-
porterteam ist an Orte gefahren, wo
vor allem eines zu spüren ist: die
Sehnsucht nach Veränderung.

WEISSWASSER
Man kommt an Petra Köpping nicht
vorbei – jedenfalls dann nicht, wenn
man sich einen umfassenden Über-
blick über die vielen Ursachen für die
wund gescheuerten Nachwendesee-
len im deutschen Osten verschaffen
will. Die 61-Jährige, Sachsens Minis-
terin für Gleichstellung und Integra-
tion, hat darüber ein Buch geschrie-
ben. Es trägt den Titel „Integriert

doch erst mal uns!“ und ist als Streit-
schrift für den Osten gedacht. Daraus
geworden ist eine Art Otto-Kata-
log deutsch-deutscher Einheitsver-
säumnisse, Aufzeichnungen aus dem
Abstiegskampf. Auf Seite 33 finden
sich die Sätze: „Es wurde keine
Trauerarbeit geleistet, und die Men-
schen wurden selten mit in die Zu-
kunft genommen. Die Niederlage
des Staates wurde im Osten in indi-
viduelle Niederlagen umgewandelt.“
An einem Mittwochabend im Au-
gust sitzt Petra Köpping im ersten
Stock eines schmucken Backstein-
gebäudes, der Stadtbibliothek von
Weißwasser, einem Ort in der Ober-
lausitz, wo die individuellen Nieder-
lagen zu einer, man muss das so sa-
gen, Massenabwanderung geführt
haben. Erst starb die Glasindustrie,
demnächst kommt das endgültige
Aus für die Kohle. Die Einwohner-
zahl Weißwassers hat sich mehr als

halbiert. Das mag auch ein Grund
dafür sein, dass die Stuhlreihen an
diesem Abend nur spärlich besetzt
sind. Es ist ja kaum noch einer da.
Vielleicht liegt es aber auch daran,
dass Köpping in der SPD ist.
Die Ministerin hat am eigenen
Leib erlebt, wie das, worauf man eben
noch stolz war, plötzlich nichts mehr
wert ist. Als studierte Staats- und
Rechtswissenschaftlerin musste sie
nach der Wende im Außendienst
einer Krankenkasse anfangen, ihr
Chef aus dem Westen bezweifelte,
ob sie den Job mit drei Kindern über-
haupt gewuppt bekomme. In Weiß-
wasser erzählt Köpping vom Promo-
vierten, der Gabelstapler fahren
musste, und von den Bergleuten, die
Tränen in den Augen hatten, als ihre
Förderbrücke gesprengt wurde, um
aus den Tagebaugebieten prospektiv
„blühende Landschaften“ zu ma-
chen, womit in diesem Fall tatsäch-
lich mal die Natur gemeint war.

Lesung in Weiß-
wasser: Petra
Köpping (SPD)
berichtet von
Demütigungen
nach der Wende

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