Der Stern - 29.08.2019

(Tina Meador) #1

Köpping hat gemerkt, wie der


Zeitgeist auf einmal nicht mehr zu


den Befindlichkeiten der meisten


Bürger passen wollte. „Aus den


Bergarbeitern, die in der DDR das


Land aufrechterhalten hatten,


waren plötzlich die Landschafts-


zerstörer geworden.“ Ostdeutsche


Geschichte, so ihr Befund, sei bis


heute kaum Teil der Gesamterinne-


rung – und die Deutungshoheit


über das, was gut und was schlecht


gewesen sei, liege maßgeblich in


westdeutscher Hand. Petra Köpping


hat bei vielen Sachsen als Reaktion


eine „Überidentifikation“ mit dem


eigenen Leben in der DDR festge-


stellt, eine Art von Patriotismus, den


es so früher gar nicht gegeben habe.


Man kann das auch Trotz nennen.


In der Stadtbibliothek von Weiß-

wasser erzählt die Ministerin, wie es


zu dem Titel ihrer Streitschrift kam,


wie ihr Pegida-Anhänger am Rande


einer der Dresdner Montags-


demonstrationen gegen die Flücht-


lingspolitik von Angela Merkel den


Satz „Integriert doch erst mal uns“


entgegengeschleudert hätten. Fest


steht: Das Aufbegehren gegen die


Flüchtlingswelle war ein Katalysa-


tor für den Rechtsruck im Freistaat.


Der alleinige Grund war es aber


nicht, was nur Fatalisten für eine


gute Nachricht halten mögen.


Vor einiger Zeit hat Köpping


jedenfalls einen Brief erhalten.


Jemand hat geschrieben: „Wenn


Sie mir eine Frau beschaffen, muss


ich nicht mehr zu Pegida gehen.“


RABENAU


Wenn heute einer auf die Idee käme,


einen Polstermöbelbetrieb aufzu-


bauen, würde er einen Arzt rufen,


sagt Andreas Käppler. Der Mann


weiß, wovon er spricht. Er selbst lei-


tet ja einen. Von 140 Polstermöbel-


firmen der DDR blieb nur seine, die


in Rabenau. Die kleine Stadt unweit


von Dresden hat eine große Tradi-


tion im Stuhlbau. Aber das heißt


nichts mehr. Was sind 150 Jahre


Firmengeschichte gegen 30 Jahre


nackten Existenzkampf? Käppler


hat nicht gezählt, wie viele Krisen er


überstand, seit er in wendeeupho-


rischer Aufbruchstimmung mit


zwei Verbündeten den VEB von der


Treuhand übernahm. Damals war


die Ansage knallhart: „Sie haben


vier Wochen Zeit, zu privatisieren,


oder Sie bringen uns die Schlüssel.“


Andreas Käppler wird diesen Satz

nie vergessen. Trotzdem schimpft er


nicht, wie üblich, auf die Treuhand.
Für ihn sei es super gelaufen.
Die Ernüchterung kam später.
„Ich wusste, dass unsere Produkte
nicht marktfähig waren, aber dass
wir so weit im Rückstand waren,
hätte ich nicht gedacht.“ Käppler,
Werkleiter seit 1988, hatte nicht nur
die Produktion umzukrempeln. Er
hatte auch zu viele Mitarbeiter. Und
keinen Zugang zum Möbelfach-
handel, denn plötzlich bestimmten
westdeutsche Handelsgruppen, wes-
sen Modelle in die Möbelhäuser
kamen. Im Westen war alles einge-
spielt. Käppler sagt ernüchtert: „Es
ist bis heute ein Problem, dass ich
Sächsisch spreche.“
Er kämpft weiter. Inzwischen ge-
hört das Unternehmen mit 230 Mit-
arbeitern und fast 5000 Modell-
varianten zu den Marktführern bei
Funktionspolstermöbeln. Ist das
Schlimmste also überstanden? „Das

Schröder. „Sie wussten, wovon sie
redeten. Den Eindruck habe ich von
heutigen Politikern nicht mehr.“
Käppler sagt, dass er sich mal das
Programm der AfD angeschaut hat.
Und? „Ich finde viele Aussagen be-
denkenswert, und ich finde meine
liberal-konservative Haltung darin
wieder.“ Er macht eine kurze Pause:
„Aber die praktische Politik der Par-
tei ist keine Alternative.“
Dieser Mann ist das Musterbei-
spiel für einen, der an die Leis-
tungsgesellschaft glaubte und sich
immer öfter ausgebremst sieht.
Er hätte gern einen Betriebskinder-
garten eingerichtet. „Wir sind schon
jämmerlich gescheitert am Abstand
der Gitterstäbe.“ Er würde Migran-
ten anlernen. „Aber ich muss doch
erst mal prüfen dürfen, ob sie sich
eignen.“ Er würde gern weiterhin
Lehrlinge ausbilden. Doch Sachsen
gibt die Ausbildung in seiner Bran-
che an Bayern ab, es sind zu wenige
geworden.
Man kann Andreas Käppler wirk-
lich nicht als Wendeverlierer be-
zeichnen. Im Gegenteil. Ausgerech-
net aber bei dem Mann, der es gegen
alle Widerstände und Wahrschein-
lichkeiten in die Marktwirtschaft
geschafft hat, ist die Bitterkeit rie-
sengroß.

GÖRLITZ
Heimat, sagt Jana Krauß, ist da, wo
ich lebe. „Wenn Sie wollen, sind Sie
hier in einem halben Jahr inte-
griert.“ Sie hat die Wende als Jugend-
liche im Spreewald zugebracht,
machte in Tübingen ihren Doktor in
Biochemie, seit 2014 führt sie die
Buchhandlung und das Antiquariat
„Art Goreliz“ – ein grün-alternati-
ves Kleinod, mittendrin in der raus-
geputzten Innenstadt mit ihren
Renaissancefassaden. Görlitz – tie-
fer östlich geht es nicht in Deutsch-
land, die Neiße fließt durch die Stadt,
am anderen Ufer liegt das polnische
Zgorzelec.
Die Kulisse ist prächtig. Sogar
Hollywood hat das schon gemerkt.
Tarantino hat hier Szenen von „In-
glourious Basterds“ gedreht, seine
ganz Tarantino-typische Abrech-
nung mit den Nazis. Brad Pitt war in
der Stadt und Diane Kruger.
Jana Krauß sitzt barfuß hinter
ihrer Buchladentheke. Es gab eine
Zeit, da sind öfter mal, nun ja, Kun-
den in ihren Laden marschiert, die
wollten unbedingt Hitlers „Mein
Kampf“ haben. Krauß hatte aber

Schlimmste ist jetzt“, sagt Andreas
Käppler, „und es ist sogar noch
schlimmer als zur DDR-Zeit. Da-
mals herrschte die Bürokratie im
Betrieb. Heute herrscht sie im Staat.“
Käppler spricht von Gängelei und
Maßregelung, er spricht von zahl-
losen Vorschriften und zahllosen
Kontrolleuren, die das Einhalten der
Vorschriften prüfen. Allein die Elek-
tromotorenverordnung für ein ver-
stellbares Fußteil füllt viele Seiten.
„Der Mittelstand war mal das Herz-
stück der deutschen Wirtschaft,
doch das geht alles kaputt. Nur die
Großen drehen weiter am Rad. Und
dann wundern wir uns über die Ver-
werfungen, die links und rechts ent-
stehen.“
Beim Rundgang durch den Be-
trieb zeigt der Geschäftsführer auch
auf den riesigen ovalen Tisch aus
deutscher Eiche, den er hat anferti-
gen lassen. Hier saß die große Poli-
tik. Käppler sprach mit Kohl. Mit

Barfuß gegen
die Rechten:
Buchhändlerin
Jana Krauß in
Görlitz

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