Ursu hat ja erst angefangen, die
ersten 100 Tage sind noch nicht rum.
Dafür sind die ersten Hassmails da.
Nach dem Mord am Kasseler Regie-
rungspräsidenten Walter Lübcke
gab es Drohungen, ihm werde es
auch so ergehen. Ursu hat sie an die
Staatsanwaltschaft weitergeleitet.
Görlitz. Blaupause für ganz Sach-
sen an diesem Sonntag? Ein kollek-
tiver Abwehrkampf der Arrivierten
gegen dieses diffuse Gefühl der Un-
zufriedenen, dass sich etwas verän-
dern müsste im Land? Diesem Ruf
nach Veränderung, den es schon mal
gegeben hat, 30 Jahre ist das nun her.
BERTHELSDORF
In Berthelsdorf toben die Enkel-
töchter von Andreas Taesler durchs
Pfarrhaus. Sie haben viel Platz, um
viert. Nach 30 Jahren kennt ein Pfar-
rer das Leben dort. Er empfindet
einen schmerzhaften Widerspruch:
„Es ist vielen Leuten nicht bewusst,
wie gut es ihnen geht und dass sie
das den großen Volksparteien zu
verdanken haben. Sie sind unzufrie-
den, obwohl viel geworden ist. Man-
cher sehnt sich heute wieder mehr
nach Sicherheit als nach Freiheit.
Die Populisten schüren die Ängste.“
Taesler beendet den Satz mit
einem Gedankenexperiment, das
ihm wohl selbst nicht geheuer ist:
Vielleicht müsse man den Ruck
nach rechts, der durch Europa gehe,
erdulden, um später zu begreifen,
was man verloren habe.
Dabei hat Andreas Taesler Erfah-
rung darin, Erhaltenswertes zu
bewahren. Ihm ist in Berthelsdorf
etwas Außerordentliches gelungen,
an symbolischem Ort. Gemeinsam
mit vielen Verbündeten rettete er
das örtliche Schloss, wo Graf von
Zinzendorf 1722 die ersten Glau-
bensflüchtlinge aus Mähren beher-
bergte. Hier liegt auch der Ursprung
der Herrnhuter Brüdergemeine,
berühmt für ihre Adventssterne.
1998 übernahm Taesler mit einem
Freundeskreis das Ruinenensemble
vom Freistaat, der bei der Treuhand
sein Vorkaufsrecht geltend gemacht
hatte. Ein Ausnahmefall. „Wir lern-
ten, mit Wundern zu rechnen.“
Gut 20 Jahre und drei Millionen
Euro Fördermittel später steht das
barocke Schloss wie neu in der
Landschaft, ein Ort für Konzerte,
Ausstellungen und Schulprojekte.
Und Andreas Taesler weiß nicht erst
seitdem: „Wer etwas gestalten will,
hat alle Möglichkeiten.“
HOYERSWERDA
Hoyerswerda wurde zum Buhmann
der Nation. Die Architektin Dorit
Baumeister spricht von einer drei-
fachen Stigmatisierung der Stadt:
Hier begannen 1991 die ersten aus-
länderfeindlichen Übergriffe unter
dem anspornenden Beifall der Ein-
wohner. Hier gab es den ersten Bür-
germeister der PDS in den ostdeut-
schen Ländern. Hier wühlten sich
Abrissbagger durch Plattenbauten,
sobald das Fördergeld dafür eintraf.
Diese Ereignisse prägten jahrelang
das Bild von Hoyerswerda in den
überregionalen Medien. „Man kann
doch nicht eine ganze Stadt an den
nur die kommentierte Ausgabe da –
wenn man so will, war das ihr
Kampf. Die Kunden zogen wieder ab.
Provokationen von ein paar Ewig-
gestrigen? Jana Krauß zuckt mit den
Schultern, anhand ihrer Kundschaft
kann sie kein Psychogramm der
Görlitzer Stadtgesellschaft entwer-
fen. Aber es braucht nicht lange,
dann hat sie das erste Mal ihr Lieb-
lingswort im Mund. Es lautet:
Selbstwirksamkeit. Sie hat bemerkt:
Zu vielen sei sie im Osten abhan-
dengekommen, die Erkenntnis,
durch eigenes Tun etwas bewirken
zu können, für andere, vor allem
aber für sich selbst. Jana Krauß sagt:
„Das Selbstwertgefühl der Men-
schen hat sehr stark gelitten.“
Links an der Wand von Krauß’
Buchladen steht eine Tafel. „Das Ge-
heimnis des Glücks ist die Freiheit.
Das Geheimnis der Freiheit ist der
Mut.“ Der Mut von damals scheint
bei vielen auf der Strecke geblieben
zu sein und mit ihm das Gefühl der
Freiheit und des Glücks. Jana Krauß
sagt: „Die Menschen haben damals
nicht nach Demokratie gerufen. Sie
haben nach Veränderung gerufen.“
Und wenn sie das heute wieder
tun? Octavian Ursu spürt die Unzu-
friedenheit in der Stadt, die nun
„seine“ Stadt ist. Seit Mitte Juni ist
der Rumänien-stämmige CDU-
Politiker Oberbürgermeister von
Görlitz. Es war knapp. Und es war ein
Kraftakt. Die Republik hat mitge-
bangt, jedenfalls der an Politik inte-
ressierte Teil, Medien aus aller Welt
waren auch da. Es galt, den ersten
AfD-Oberbürgermeister zu verhin-
dern, der Kandidat der Rechten hat-
te nach dem ersten Wahlgang noch
in Front gelegen. Gestoppt werden
konnte er nur, weil Mitbewerber
verzichteten und Grüne, Linke und
SPD zur Wahl Ursus aufriefen. Sogar
Hollywood schickte eine Soli-
Adresse. Görlitz stand im Schein-
werferlicht, das Image einer ganzen
Stadt auf dem Spiel.
In seinem Amtszimmer konsta-
tiert Ursu, dass es auch im 30. Jahr
nach der Wende vielen noch immer
an politischer Bildung fehle. „Viele
verstehen gar nicht, wie die Syste-
me funktionieren.“ Octavian Ursu
sagt: „Ich bin in einer Diktatur auf-
gewachsen – wir sollten die Lang-
samkeit der Demokratie genießen.“
Man muss das im Zusammenhang
zitieren, sonst wirkt das aus dem
Mund eines Politikers womöglich
wohlfeil.
sich zu verstecken. Obwohl Taesler
voriges Jahr in Rente ging, darf er
mit seiner Familie wohnen bleiben.
Die evangelische Kirche besetzt die
Stelle nicht wieder. Auch die Kirch-
gemeinden werden kleiner, seit Tau-
sende in der Nachwendezeit in den
Westen zogen.
„Uns fehlt eine ganze Generation“,
sagt Taesler. „Vor allem die Pfiffigen
sind fort. Und viele junge Frauen.“
Er kann das im Rückblick verste-
hen und zählt die Verluste auf: Der
Kohletagebau bei Zittau wurde ge-
schlossen, die Robur-Werke stellten
die Produktion von Lkws ein, die
Textilindustrie brach zusammen.
„Man hat sich Werkbänke ge-
wünscht, aber es kamen die verlän-
gerten Ladentheken.“
Berthelsdorf liegt in der Oberlau-
sitz im östlichen Zipfel des Landes
und hat etwa 1500 Einwohner. In
den Vorgärten blühen die Dahlien.
Die meisten Häuser wurden reno-
DAS SELBSTWERTGEFÜHL
Sachsens Minis-
terpräsident
Kretschmer (r.)
in Freital im
Gespräch mit
den Reportern
50 29.8.2019