Günters Vater war Deutscher, trat 1936,
wohl vor allem, um nicht noch mehr Kun-
den zu verlieren, in die NSDAP ein. Die
Mutter war Kaschubin, ein westslawischer
Volksstamm, nicht ganz deutsch, nicht
ganz polnisch. Die kaschubischen Ver-
wandten, so hat sich Grass später erinnert,
hätten in jedem Konfliktfall der Geschichte
pragmatisch reagiert. Man solle ihnen sa-
gen, welche Macht gerade die Oberhand
habe, sie würden dann gern die entspre-
chenden Fahnen raushängen.
Marcel wurde in Berlin groß. Seine Fa-
milie kam bald nach, sie lebten in ärm -
lichen Verhältnissen. Der Junge ging zur
Schule, bald aufs Gymnasium und machte
als Jude in Berlin 1938 weitgehend unbe-
helligt Abitur. Eines Morgens im Oktober
1938 klingelte es an seiner Tür, und ein
Polizist erklärte ihm, dass er Deutschland
jetzt verlassen müsse, er nehme ihn gleich
mit. Einen Monat später sah der elfjährige
Günter Grass zusammen mit seinem Vater
Synagogen von Danzig beim Brennen zu.
Den Krieg erlebten die beiden auf den
entgegengesetzten Seiten der Weltge-
schichte. Reich-Ranicki im Warschauer
Getto. Grass in der Wehrmacht. Er wollte
unbedingt an die Front, er glaubte an Hit-
ler, an den Sieg der deutschen Sache.
Marcel Reich-Ranicki hat beinahe seine
ganze Familie im Holocaust verloren. In
einer der bewegendsten Szenen seiner Au-
tobiografie beschreibt er, wie er seine El-
tern zum sogenannten Umschlagplatz in
Warschau brachte, wo die Züge nach
Treblinka abfuhren und wenig später leer
zurückkamen. »Ich sagte ihnen, wo sie
sich anstellen mussten.« Wie er, zusam-
men mit seiner Frau Teofila, den Krieg
überlebte, ist längst deutsche Legende ge-
worden. Ein Märchen aus der Wirklichkeit.
Mit unglaublichem Glück und Todesmut
hatte das Ehepaar das Getto verlassen und
war bei der Familie des Setzers Bolek Ga-
win und dessen Frau Genia in einem Vor-
ort von Warschau untergekommen. Mehr
als 400 Tage hielten sie die Reich-Ranickisversteckt. Immer wieder kurz davor, die
Nerven zu verlieren. Denn auf das Verber-
gen von Juden stand die Todesstrafe. Aber
sie hatten sich da eine Art Scheherazade in
ihren Keller geholt. Marcel Reich-Ranic ki
kannte die Weltliteratur, vor allem die
Dramen, damals schon beinahe auswen-
dig. Und so erzählte er Abend für Abend,
so hat er sich später erinnert, um sein Le-
ben und das seiner Frau. Bolek Gawin lieb-
te die Geschichten. Die beiden sollten le-
ben. Überleben bei ihm.
Grass hatte endlich seine Uniform, seine
Kompanie, in Dresden wurde er Mitglied
der Waffen-SS. Er glaubte an den Sieg bis
zum Schluss, er sah Kameraden sterben,
verlor den Anschluss an seine Kompanie,
irrte ohne Marschbefehl durch die Wälder
der Lausitz. Ein Kamerad musste ihn da-
rauf hinweisen, dass er seine Runen mit
dem Doppel-S wohl langsam besser vom
Kragen trenne, sonst sei es nämlich mit
ihm aus. Er geriet in amerikanische Kriegs-
gefangenschaft, und noch als ihm und
anderen Wehrmachtsoldaten das KZ Dach-
au gezeigt und der Mord an den Juden ge-
schildert wurde, glaubte er kein Wort.
Kein Zweifel habe seine Jugendjahre ge-
trübt, so hat es Günter Grass später immer
wieder geschildert. So hat er den Zweifel
später zu einer Art Religion gemacht. »Ich
glaube an den Zweifel« ist sein Glaubens-
bekenntnis. Und die zentrale Figur in ei-
nem seiner besten Bücher, »Aus dem Ta-
gebuch einer Schnecke«, hat er »Zweifel«
genannt. Dieser Zweifel überlebt den
Krieg im Keller eines Polen, indem er ihm
Geschichten erzählt.
Es ist Reich-Ranickis Geschichte. Als
Grass ihn, den Juden aus Włocławek, zum
zweiten Mal sah, das war im Herbst 1958,
da erzählte ihm Reich-Ranicki seine Über-
lebensgeschichte, und Grass fragte sofort:
Kann ich die haben? Reich-Ranicki sagte
Ja, Grass hat sie viele Jahre später auf -
geschrieben – und ihm, dem Juden, dem
Überlebenden auf der anderen Seite der
Geschichte, hat er den Namen seines neu-
en Glaubens gegeben, den Namen dessen,
was ihm als junger Mann fehlte: Zweifel.
Als Reich-Ranicki nach Erscheinen des
Buches ein Honorar für sich forderte und
Grass ihn zum Butt-Essen einlud und ihm
eine seiner Grafiken schenkte, schrieb er
als Widmung dazu: »Für meinen Freund
(Zweifel) Marcel Reich-Ranicki«.
Das erste Mal begegneten sie sich in
Warschau. Sommer 1958. Grass war zum
ersten Mal wieder in seiner Heimatstadt
Danzig gewesen, die er im Krieg verlassen
hatte, als sie noch völlig unbeschadet war.
Die Zerstörung kam kurz danach. Jetzt
hatte er seine Kindheit gesucht, für den
Roman, an dem er schrieb. Reich-Ranicki
lebte damals in Warschau auf dem Sprung.
Er war nach dem Krieg in die Kommunis-
tische Partei eingetreten, hatte für denDER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019 101
FREDDY LANGER / DPA
Kritiker Reich-Ranicki 2010: Warten auf die Nachricht von Grass’ Tod