Geheimdienst gearbeitet, unter anderem
als Konsul in London, wo er Informatio-
nen über antikommunistische Exilpolen
sammeln sollte. Irgendwann war er in Un-
gnade gefallen, wurde aus London abbe-
rufen, aus der KP ausgeschlossen und kam
ins Gefängnis. In der Zelle las er »Das sieb-
te Kreuz« von Anna Seghers, und ihm
wurde klar, dass er sein Leben ganz der
Literatur widmen müsse. Er arbeitete dann,
mal von der Partei geduldet, mal nicht, als
Lektor, Übersetzer, schließlich als Kritiker.
Aber er wollte raus aus Polen. Hinein in
das Land, dessen Musik und Literatur er
liebte. Das ihn 20 Jahre zuvor eines Mor-
gens hinausgeworfen hatte.
Und er hatte da schon seine Vorstellun-
gen, wie ein deutscher Schriftsteller so aus-
zusehen habe, als ihm ein Freund in War-
schau einen jungen, unbekannten deut-
schen Dichter ankündigte, er interessiere
sich doch für alles, was mit deutscher Lite-
ratur zusammenhänge. Tja. Und dann
schlummerte ein ungepflegter Hüne in ei-
nem Sessel im Foyer des Hotel Bristol.
Aber: Das war er. Günter Grass, auf der
Rückfahrt von seiner Recherchereise nach
Danzig. Er hatte zu Mittag eine Flasche
Wodka getrunken, Reich-Ranicki erinner-
te er an einen Zigeuner oder einen bulga-
rischen Spion. Jedenfalls keinesfalls an ei-
nen deutschen Dichter. Und das Erste, was
er empfand, als er ihn sah, war: Angst. So
ein Mann habe gewiss ein Messer in der
Tasche. So einem Mann sollte man nachts
nicht auf der Straße begegnen.
Ihr Gespräch war fantastisch unergiebig.
Reich-Ranicki wollte über Thomas Mann
und Hermann Hesse reden, das interessierte
den jungen Dichter überhaupt nicht. Aber
woran er gerade schrieb, das erzählte er
gern: die Geschichte eines buckligen Zwergs
in einer Irrenanstalt. Da glaubt man gerade-
zu, den Kritiker zu sehen, wie er sich schrei-
end die Ohren zuhält. »Hören Sie auf mit
dem Quatsch! Zwerg! Irrenanstalt! Buckel!
Wer will das lesen?« Wir wissen nicht, was
der Zuhörer damals sagte. Wir wissen nur:
Er glaubte keine Sekunde an den Erfolg des
Buches, das da offenbar im Entstehen war.
Nicht lange danach floh Reich-Ranicki
dann in die Bundesrepublik. Er fasste als
Kritiker schnell Fuß. Kurz nach seiner An-
kunft wurde er zu einem Treffen der le-
gendären Gruppe 47 geladen. Dort traf er
auch den betrunkenen Bulgaren aus War-
schau wieder. Grass las hier zum ersten
Mal aus seinem Zwergenroman vor, der
ihm später Weltruhm und Nobelpreis ein-
bringen würde. »Die Blechtrommel«.
Die Zuhörer sind begeistert, auch der
skeptische Kritiker schreibt freundliche
Bemerkungen in seinen Tagungsbericht.
Doch als »Die Blechtrommel« ein Jahr spä-
ter als Buch erscheint, ist die deutsche Kri-
tik begeistert – und Reich-Ranicki wartet
ab, bevor er angreift. Es ist der erste Text,
den er für die »Zeit« schreibt. 1. 1. 1960.
Es geht gleich gegen alle. Gegen die deut-
sche Literaturkritik. Gegen dieses Buch.
Das man keinesfalls »mit Kunst verwech-
seln« dürfe. Ein Mann betritt mit 39 Jah-
ren die Bühne der deutschen Öffentlich-
keit. Er möchte sichergehen, dass er von
allen gehört wird. Und mit den Jahren
wird er die Lautstärke immer weiter erhö-
hen. Sein liebster Gegner, sein liebster
Feind, der stärkste Widerpart bleibt der
Blechtrommler aus Danzig. Er ist einfach
der effektvollste Gegner. Weil auch er die
öffentliche Inszenierung liebt. Weil er die
öffentliche Auseinandersetzung liebt. Weil
er ein starker Gegner ist, der mit seinem
ersten Roman eine ganz eigene Macht -
demonstration geliefert hat. Das weiß auch
Reich-Ranicki. Verriss hin oder her. Er
wird den auch schon knapp vier Jahre spä-
ter öffentlich zurücknehmen. Hat er sich
eben getäuscht. Gute Kritiker täuschen
sich. Das bescheinigt er sich gleich mit.Nie mehr Opfer sein. Das war das er-
klärte Ziel Reich-Ranickis, als er nach
Deutschland zog. Sich nicht als leises, ver-
schrecktes, mitleiderregendes Lämmchen
inszenieren. Sondern als Angreifer. Mit
Macht. Macht über den Teil der Welt, der
ihm so wichtig war wie kein anderer, der
ihm in höchster Not das Überleben gesi-
chert hatte, den er liebte: die Literatur.
So ringen die beiden vor den Augen des
Publikums Buch für Buch ihren Kampf.
Wenige Grass-Bücher wird Reich-Ranicki
loben, am lautesten die leisen Bücher, die
Gedichte vor allem. Höhepunkt des Duells
wird der wütende Verriss des Wende -
romans »Ein weites Feld« 1995 im SPIEGEL
sein. Reich-Ranicki hatte wenige Monate
zuvor eine erste Lesung aus dem Roman
in der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt
eingeleitet. Hatte Grass eingeladen, ihn
auf der Bühne gepriesen und gelobt, hatte
nach der Lesung stehend applaudiert. Und
dann dieser Totalverriss mit dem zerfetz-102 DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019
ISOLDE OHLBAUM / LAIF
Schüler, Feuilletonist Reich-Ranicki; Arbeitsdienstler, Bestsellerautor Grass
Das erste Treffen ist fantastisch unergiebig1936194419661978BRIDGEMANBRIDGEMAN