Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

der seinem Spieler damals verblüffend
ähnlich sah und ihn nach Europa vermit-
telte, hatte zwei Kameramänner verpflich-
tet, die ihn begleiten sollten. Erst in Bar-
celona und dann in Neapel. Die beiden
waren überall dabei, bei den Spielen, in
den Umkleidekabinen, bei Maradona zu
Hause, beim Training, auf Partys. Kapa -
dias Produzenten fanden das Material bei
einem der beiden Kameramänner, der
noch heute in der Nähe von Neapel lebt.
500 Stunden Film insgesamt, auf einem
Videoformat namens U-matic, das heute
kaum mehr genutzt wird.
Und anders als bei Bernie Ecclestone
waren die Verhandlungen erstaunlich ein-
fach. Maradona kannte Kapadias Senna-
Film. Man einigte sich auf einen sechsstel-
ligen Betrag, Maradona verpflichtete sich
zu insgesamt neun Stunden Interviews, der
Vertrag wurde unterzeichnet, ohne dass
ihn jemand ernsthaft gegengelesen hätte.
Kapadias Filme leben von der Rohheit
und Authentizität des Originalmaterials.
U-matic sieht heute dreckig aus und kör-
nig, auch das andere Material, das Kapadia
benutzt, Smartphone-Videos etwa, wirkt
unprofessionell. Auf zwei Stunden und
zehn Minuten collagiert Kapadia die un-
terschiedlichen Techniken. Alles ist roh
und dreckig.


Dreckige Bilder aus einer dreckigen
Stadt, als der Fußball noch dreckig war. Aus
einer Zeit, als der weltbeste Fußballer nur
zwölf Millionen Euro kostete. Als der Sport
noch nicht in der Hand von Investoren war.
Und die Stars in ungewaschenen Golfs ge-
fahren wurden statt in Luxus limousinen.
»Es war damals«, sagt Kapadia bei einem
Treffen in London, »alles unperfekt. Die
Bilder. Die Menschen. Der Fußball. Diegos
Leben ist analog. Und analog ist dreckig.«
Die 500 Stunden Material sind der Kern
des Films. Kapadia zeigt, wie sich die Tra-
gödie von Maradonas Leben in den Jahren
von 1984 bis 1991 entwickelt.
Maradona war zwei Jahre vorher aus
Argentinien nach Barcelona gewechselt,
für acht Millionen Euro, auch das der da-
mals teuerste Transfer. Es lief nicht gut. Er
erkrankte an Hepatitis. Bei einem Meis-
terschaftsspiel brach ihm ein Verteidiger
von Athletic Bilbao, Spitzname »der
Schlachter«, den Knöchel. Ein halbes Jahr
später verlor Barcelona das Pokalfinale in
Madrid gegen ebenjenes Bilbao. Der Kö-
nig war da, halb Spanien schaute zu, aber
Maradona zettelte nach Abpfiff eine Mas-
senschlägerei an, weil er von Spielern Bil-
baos beleidigt worden war. Kopfstöße,
Kung-Fu-Tritte, Maradona schlug um sich
wie ein Straßenjunge, bald schon gingen

beide Teams und deren Betreuer aufeinan-
der los. Am Ende zählte man 60 Verletzte.
Szenen, die heute unvorstellbar wären.
Maradona musste wechseln. Sein neuer
Verein: SSC Neapel, ein Underdog der ita-
lienischen Liga. Im Film sagt der Marado-
na von heute mit seiner etwas schlurig und
schläfrig gewordenen Stimme: »Ich kannte
weder Neapel noch Italien, aber es gab kei-
nen anderen Klub, der mich haben wollte.
Ich wollte ein Haus und bekam eine Woh-
nung. Ich wollte einen Ferrari und bekam
einen Fiat.«
Neapel wurde dank Maradona ein Sie-
gerteam, gewann zwei italienische Meis-
terschaften, den italienischen Pokal und
den Supercup und den Uefa-Cup, das alles
in nur vier Jahren. Niemand war besser
als Maradona. Bei der Weltmeisterschaft
1986 führte er Argentinien im Alleingang
zum Titel. Im Viertelfinale gegen England
sorgte er für die größten vier Minuten der
Fußballgeschichte, als er erst ein Tor mit
der Hand erzielte und dann in einem Lauf
über 60 Meter, das halbe Team der Eng-
länder ausspielend, das zweite schoss. Ma-
radona, der Böse und der Gute, Teufel und
Engel zugleich.
Nach dem ersten Titel in der Geschichte
des Vereins feierte Neapel wochenlang.
Maradona war der Retter geworden, ein

DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019 107


ALFREDO CAPOZZI/DCM
Weltstar Maradona bei seiner Vorstellung im Stadion San Paolo in Neapel 1984: »Ich wollte einen Ferrari und bekam einen Fiat«
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