neuer Stadtheiliger. Die Verehrung und
Liebe war überwältigend und auch ein-
schüchternd. Es gab kein Entkommen vor
der Liebe dieser Neapolitaner.
Schon in Barcelona hatte Maradona be-
gonnen, ein ausschweifendes Nachtleben
zu führen. Partys, Kokain, Frauen, in Nea-
pel war das nicht anders. Außerdem mach-
te er neue Bekanntschaften: mit Carmine
Giuliano beispielsweise, Spitzname »der
Löwe«, dem Chef eines Camorra-Clans.
Ein Mann mit einem verschlagenen Ge-
sicht wie aus einer Mafia-Fernsehserie. Die
Giulianos versorgten Maradona mit Ko-
kain und Prostituierten. Für jede Gefällig-
keit, für jedes Foto, für den Besuch einer
Party, bekam Maradona eine Rolex ge-
schenkt. In Kapadias Film berichtet er, wie
sie ihn eines Abends abholten mit einem
Roller und in das Haus Carmines brachten.
Der Tisch war gedeckt. »Einer hatte eine
Pistole«, sagt Maradona. »Ich fühlte mich
wie in einem Al-Capone-Film. Carmine
sagte: Dein Problem ist auch unser Pro-
blem. Wir werden dich beschützen.«
Sonntags war Spieltag. Nach dem
Abendessen mit der Mannschaft gingen
sie aus, zwei, drei Nächte lang, Drinks, Ko-
kain, Discos. Mittwochs begann er mit der
Ausnüchterung, am nächsten Sonntag war
ja wieder Spieltag. Und während Mara -
dona in Mexiko die Weltmeisterschaft ge-
wann, war eine Geliebte von ihm schwan-
ger mit seinem unehelichen Sohn.
Das konnte nicht lange gut gehen. Die
Drogen, die an seinem Körper zehrten. Die
Hybris, alles wegstecken zu können und
trotzdem auf höchstem Niveau zu spielen.
Das Gefühl, der Beste zu sein. Sein Na-
turell, keinem Streit aus dem Weg zu gehen,
sondern ihn zu suchen. Die Polizeiermitt-
lungen gegen die Mafia, bei denen auch Te-
lefonate mit ihm mitgeschnitten wurden.
Und als er während der Weltmeisterschaft
in Italien vor dem Halbfinale seines argen-
tinischen Teams gegen den Gastgeber, aus-
gerechnet in Neapel, verkündete, dass Nea-
pel nicht zu Italien gehöre und er deshalb
Argentinien anfeuern würde, war es vorbei.
Er hatte die Stadt verloren und auch Car-
mine, weil die Ermittlungen gegen Mara-
dona längst für die Camorra gefährlich ge-
worden waren. Als man bei einer Doping-
probe Kokain fand, verließ Maradona über
Nacht Italien. »Als ich kam, waren 85 000
Menschen da«, sagt Maradona in Kapadias
Film, »als ich ging, war ich allein.«
Vieles von dem, was Maradona in den
Jahrzehnten danach geschehen ist, schnei-
det Kapadia nur an. Die beiden Notfall-
einlieferungen in den Nullerjahren, bei de-
nen er fast gestorben wäre. Der lange Auf-
enthalt in Kuba, die Fettsucht, die Magen-
verkleinerung. Und auf vieles verzichtet
er ganz: auf Maradonas Freundschaften
mit »Revolutionären« wie Chávez, Castro
und Maduro. Darauf, dass er längst auch
zur Ikone der lateinamerikanischen Nar-
co-Kultur geworden war, als Rebell und
Held der Unterschichten. Darauf, dass
Maradona kurz nach seiner Flucht aus Ita-
lien ausgerechnet Pablo Escobar in dessen
Luxusknast in Medellín besuchte, um dort
für den Drogenboss Fußball zu spielen.
Und auch darauf, dass Maradona seit
September vergangenen Jahres in Mexiko
als Trainer arbeitete, für einen Zweitliga-
klub namens Dorados, der im Bundesstaat
Sinaloa beheimatet ist, dort, wo Joaquín
»El Chapo« Guzmán das Sinaloa-Kartell
aufbaute.
Als ob der Wahnsinn nie ein Ende fände
im Leben von Diego Maradona. Aber da-
mals in Neapel begann der Wahnsinn –und seine Flucht aus Italien war so etwas
wie sein erster Tod.
Mehrmals hat Kapadia Maradona getrof-
fen, um die vereinbarten Interviews zu füh-
ren. Beim ersten Mal in Dubai mussten sie
eine Woche lang warten, bis Kapadia ihm
kurz Hallo sagen durfte. Maradona hält
nicht viel von Verabredungen und schläft
bis nachmittags um vier. »Wenn Diego klar
ist«, sagt Kapadia, »ist er großartig. Er hat
Humor und Charme und Charisma. Mög-
licherweise hat er ein paar Gedächtnispro-
bleme. Aber er ist ein Streetfighter. Nie-
mand anders hätte das alles überlebt.«
Bei den Filmfestspielen in Cannes wur-
de der Film das erste Mal gezeigt. Kapadia
hatte Maradona eingeladen. Aber er kam
nicht. Gesundheitsprobleme, im Sommer
wurde ihm eine Knieprothese ein gesetzt.
Er hat den Film bis heute nicht gesehen.
»Ich mag Maradona«, sagt Kapadia,
»und ich möchte auch, dass die Leute ihn
mögen. Der Film ist kein Attentat. Aber
während ich in Cannes im Kino saß und
mir vorstellte, wie es wäre, wenn Mara -
dona das alles zum ersten Mal sehen wür-
de, da dachte ich: Oh, mein Gott, zum
Glück ist er nicht da. Was für eine schwach-
sinnige Idee. Es wäre nicht fair. Und was,
wenn er richtig böse geworden wäre und
mich angegriffen hätte?«
Eine der letzten Szenen des Films zeigt
Maradona auf einem Bolzplatz in Buenos
Aires. Die Aufnahmen, wohl mit einem
Smartphone aufgenommen, sind aus dem
Jahr 2016. Sie spielen fünf gegen fünf. Eine
bunt gemischte Truppe von Freizeit -
kickern, auch ein paar junge Frauen sind
dabei. Maradona, ziemlich mächtig und
schwer, kann kaum gehen, geschweige
denn laufen. Maradona, der große Mara-
dona, steht nur rum und wird gar nicht an-
gespielt. Ein trauriger Kick. Irgendwann
gibt ihm mal jemand den Ball. Ein kurzes,
steifes Dribbling, ein Schuss, und Mara -
dona feiert dieses kleine, beschissene Bolz-
platztor, als wäre es ein wichtiges.
Ist es auch. Der junge Mann, der sich
Maradona erbarmte und ihm den Ball
zuspielt, ist Diego Armando Maradona
junior, der uneheliche Sohn aus Neapel.
Diego junior hat früher in der italienischen
Jugendnationalmannschaft gespielt, zur
großen Karriere hat es nicht gereicht. Hier
in Buenos Aires hat sich Maradona endlich
öffentlich zu seinem Sohn bekannt. Das
muss man sich vorstellen: Dein Vater ist
Maradona, und du musst 30 werden, bis
du endlich mal mit ihm auf dem Fußball-
platz stehst. Lothar Gorris108 DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019
Video
Regisseur Asif Kapadia
über »Diego Maradona«
spiegel.de/sp362019kino
oder in der App DER SPIEGELGABRIEL BOUYS / AFP
WM-Besucher Maradona 2018 in Russland: »Niemand anders hätte das alles überlebt«