Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1
Kultur

D


ie Angst vor dem Verlust der Autonomie begleitet den
modernen Menschen wie sein Schatten, seit die Auf-
klärung die Idee des freien und mündigen Individuums
hervorgebracht hat, auf der die liberale Gesellschaft bis heute
basiert. Der Haken: In diesem Sinn frei sein kann nur, wer
vernünftig ist, also das will, was er auch soll.
Der Siegeszug der digitalen Technik, der die Gesellschaft
in den vergangenen Jahrzehnten revolutioniert hat, erweitert
diese Möglichkeiten der Selbststeuerung ins Unendliche –
und befeuert in gleichem Maß das Unbehagen an der digitalen
Kultur. Deren Kritiker begreifen die Digitalisierung als eine
fremde Macht, die die Gesellschaft besetzt und einem un-
sichtbaren Mechanismus unterwirft. Dagegen regt sich Wi-
derstand – gegen das Wegfallen von Arbeitsplätzen durch
Automatisierung, gegen Kontroll- und Überwachungsfunk-
tionen, gegen das Gespenst einer sich verselbstständigenden
Technik, gegen die Manipulierbarkeit eines quantifizierten
Bürgers und Konsumenten.
Der in München lehrende Soziologe Armin Nassehi, der
auch Herausgeber der Zeitschrift »Kursbuch« ist und sich in
den vergangenen Jahren als eine Art öffentlicher Meister -
denker der soziologischen Theorie hervorgetan hat, dreht nun
die Perspektive um. In seinem neuen Buch »Muster« legt er
eine Theorie der digitalen Gesellschaft vor, die die Digitalisie-
rung nicht nur als Herausforderung, sondern auch als Chance
für die Soziologie und ihre »Wiedergeburt« analysiert. Ihm
geht es um die Erkenntnis, dass die Gesellschaft sich vor allem
mit den Möglichkeiten von Big Data wiederentdecken kann.
Nassehi beginnt deshalb nicht mit der Frage: Was ist Digi-
talisierung? Auch nicht damit, was für Probleme die Digita-
lisierung bereitet. Er stellt vielmehr eine funktionalistische
Frage: »Für welches Problem ist die Digitalisierung die Lö-
sung?« Und gibt gleich die ernüchternde Antwort: »Das Be-
zugsproblem der Digitalisierung ist die Komplexität und vor
allem die Regelmäßigkeit der Gesellschaft selbst.«
Das ist – als erste These dieses in die soziologische Debatte
geworfenen Pflastersteins – für den erwartungsfreudigen Le-
ser erst mal ein radikaler Abturner, am Rand der Tautologie.
Dennoch setzt Nassehi seine Behauptung mit einer »dritten
Entdeckung der Gesellschaft« gleich, die für ihn die »viel-
leicht sogar endgültige« ist. Zuerst habe sich die Gesellschaft
nach der Französischen Revolution selbst entdeckt, als die
Nationalstaaten mit ihrem neuen Gefüge an politischen und
rechtlichen Institutionen entstanden. Die zweite Entdeckung
erfolgte mit der Liberalisierung und Pluralisierung der Le-
bensformen nach dem Zweiten Weltkrieg.
Die dritte Entdeckung mit Nassehi als Weltumsegler ist
nun die digitale, in der die Gesellschaft ihre verborgenen
Muster, also ihre Ordnung, in der quasi unendlichen Rekom-
bination von individuell erhobenen Daten sichtbar werden
lässt. Das Individuum, die stolze Erfindung der Moderne,


Armin Nassehi: »Muster. Theorie der digitalen Gesellschaft«. C. H. Beck;
352 Seiten; 24 Euro.


scheint im Augenblick seines Triumphs zu verschwinden – um
in digitalen Mustern wiederzukehren: »enorm stabil, regel-
mäßig, in vielen Hinsichten auch berechenbar«.
So erweist sich das individuelle Verhalten aber als besser
vorhersehbar und leichter zu steuern, als es dem modernen
Selbstbewusstsein guttut. »Diese dritte Entdeckung der Ge-
sellschaft«, befindet Nassehi, »ist vor allem eine Entdeckung
ihrer Widerständigkeit, ihrer erstaunlichen Stabilität, ihres
Grundzugs der wiederholenden Bestätigung von Strukturen.«
Der Unterschied zwischen dem Projekt der Emanzipation
des Individuums, das am Anfang der Moderne stand, und
seiner Vollendung in der digitalen Gesellschaft ist der zwi-
schen einem Überschuss an Sinn, den der Gestaltungs- und
Aufbruchswille der Moderne schuf, und einem Überschuss
an Kontrolle, der die Digitalisierung kennzeichnet.
Vor diesem Konflikt steht das Individuum ziemlich ratlos.
Die Auflösung der Selbstbestimmung gehört zu den Desillu-
sionserfahrungen der Gegenwart. »In der digitalen Gesell-
schaft zu behaupten, das rationale Zeitalter der Moderne sei
transparenter und weniger geheimnisvoll als frühere Zeiten«,
wie es noch die Gründerväter der Soziologie hofften, »hält
einer genaueren Betrachtung nicht stand. Nur ist der Bereich
des Unbekannten, des Geheimnisvollen, des Dunklen und
Unsichtbaren nun nicht mehr Göttern, Dämonen, dem
Schicksal und anderen dunklen Mächten zurechenbar, son-
dern einer auf Reflexion verzichtenden Technik.«
Die technische Rationalität, die in der Digitalisierung ihre
maximale Ausdehnung erreicht, hat die Welt entzaubert.
Doch »wenn man es genau nimmt, hat sich alles geändert,
und es bleibt doch alles beim Alten«.
So entlässt der Autor den Leser in eine Ungewissheit, die
am Ende, nach so vielen oft im apodiktischen Duktus vorge-
tragenen Sätzen, trotz aller Anregungen den Zweifel offen-
lässt, ob der aufklärende Wissenschaftler nicht einfach im
Dunkeln pfeift. Die Chance, aus dem Wald herauszufinden,
bleibt ja bestehen. Roman Leick

Verschwindendes


Individuum


SachbuchkritikDer Soziologe Armin Nassehi
legt seine »Theorie der digitalen Gesellschaft«
vor. Die ist ziemlich desillusionierend.

DIETER MAYR / AGENTUR FOCUS
Denker Nassehi
»Für welches Problem ist die Digitalisierung die Lösung?«

109
Free download pdf