Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

K


urz nach dem Mittagsmahl,
wenn sich im brandenburgischen
Zernsdorf schläfrige Ruhe aus-
breitet, schleicht sich Richard
Vogel auf die Bahngleise. Um 12.40 Uhr,
das weiß der 67-Jährige, kommt die RB36
der Niederbarnimer Eisenbahn vorbei, auf
dem Weg von Königs Wusterhausen nach
Frankfurt (Oder). Danach hat er 40 Minu-
ten Zeit bis zur nächsten Lok, um seine
Welt in Ordnung zu bringen.
Der drahtige Pensionär geht mit gesenk-
tem Blick die Bahnschwellen ab. Er bückt
sich alle paar Meter und reißt eine Pflanze
aus dem Schotterbett, jätet Unkraut. Denn
wenn er es nicht tut, schickt die Bahn einen
Giftzug, der Glyphosat verspritzt, direkt
vor seine Haustür, neben dem Gemüsegar-
ten, ganz nah am Brunnen.
Das hatte der Bahnfan nicht bedacht,
als er sich vor vier Jahren einen Traum er-
füllte und das Bahnhofsgebäude erstand.
Vogel weiß genau, wovor er sich fürchtet.
Er hat einen Doktortitel in Biologie, arbei-
tete jahrzehntelang als Toxikologe beim
Bundesgesundheitsamt und beim Bundes-
institut für Risikobewertung – ausgerech-
net. Das ist jene Behörde, deren Stellung-
nahme Glyphosat im EU-Wiederzulas-
sungsverfahren als »wahrscheinlich nicht
krebserregend« eingestuft hatte, was die
Erlaubnis bis 2022 nach sich zog.
Vogel ist damit nicht einverstanden. Der
Stoff müsste seiner Meinung nach aus dem
Verkehr gezogen werden, im Sinne des
vorbeugenden Gesundheitsschutzes. Doch
er wisse, dass der Druck auf die Behörde
in solchen Fällen immer groß sei, sagt er.
»Fällt ein Stoff in Verruf, lässt die Industrie
Experten und Anwälte in Fußballteamstär-
ke aufmarschieren. Und dann zählt schnell
das Arbeitsplatzargument.«
Die Glyphosatlobby ist mächtig: Es sind
die Landwirte als Hauptanwender, die
Agrochemieproduzenten wie BASF und
Bayer – und die Deutsche Bahn.
Ausgerechnet das Unternehmen, das
sich derzeit mit geballter PR-Macht als
grüner, ökologischer, nachhaltiger Mobili-
tätsanbieter in Szene setzt, ist der größte
Glyphosatkunde Deutschlands. Seit Jahr-
zehnten spritzt die Bahn ungeachtet der
Proteste vieler Städte, Gemeinden und
Wasserversorger Herbizide, um 60 500 Ki-
lometer Gleise unkrautfrei und befahrbar
zu halten; 67 Tonnen waren es 2017.
Trotz der Debatte über die Gesund-
heitsgefahren des Mittels, trotz der
Gerichts urteile in den USA gegen den
Glyphosathersteller, die Bayer-Tochter
Monsanto, trotz der Öko-Imagekampa-
gne will die Bahn ihre Praxis bis Ende
2022 beibehalten, solange das Mittel zu-
gelassen ist. In einer aktuellen Ausschrei-
bung für Dienstleister wird der Einsatz
des Herbizids explizit aufgeführt. Es sei
aus Sicherheitsgründen »im Moment


noch alternativlos«, erklärt die Bahn. Seit
Jahrzehnten.
Es ist nicht die einzige Ökosünde des
Unternehmens, das sich derzeit als Herz-
kammer der Verkehrswende zu positio -
nieren versucht. »Bahnfahren ist Klima-
schutz«, sagt Bahn-Chef Richard Lutz.
Doch die Behauptung, im Fernverkehr
mit 100 Prozent Ökostrom zu fahren und
15 große Bahnhöfe mit Ökostrom zu be-
treiben, ist irreführend.
Wer sich in Frankfurt am Main, Mün-
chen oder Hamburg in einen modernen
ICE setze und mit über 250 Stundenkilo-
metern von einer Metropole in die andere
fahre, brauche sich keine Gedanken um
die CO 2 -Bilanz der Reise zu machen,
wirbt die Bahn. Kaum ein Kunde ahnt,
dass der Antriebstrom mit großer Wahr-
scheinlichkeit aus einem Braunkohle-, Gas-
oder Atomkraftwerk stammt und der Öko-
strom oft nur als Herkunftsnachweis in
den Bilanzen existiert. Ist das grün?
»Das ist grün«, wirbt die Bahn stolz und
listet 151 Ökomaßnahmen auf. Etwa die
wiederverwertbaren Kurzarmhemden der
Bahnuniformen. Die Einführung von Bio-

spüli in den Kantinen. Fünf Elektro-Lkw.
E-Busse, LED-beleuchtete Kartenauto -
maten.
Auch der kahlrückigen Waldameise
wird geholfen. Finden sich die gefährdeten
Tiere nahe von Bahnbauarbeiten, werden
sie umgesiedelt und am neuen Standort
mit Zucker zum Bleiben überredet. Die
Bahn baut Schlupfwinkel für Mopsfleder-
mäuse, hilft dem Biber beim Dammbau,
buddelt Unterführungen für den Fischotter.
Auf bahneigenen Flächen äsen Wildpferde
und Wasserbüffel. 50 Millionen Bienen
weiden auf stillgelegten Gleisanlagen, auf
denen kein bienengefährdendes Glypho-
sat mehr gespritzt wird. Den Honig ver-
treibt die Bahn unter dem Namen Gleis-
gold, für 9,90 Euro das Pfund.
Klingt alles gut, nur sind viele dieser Ar-
tenschutzprojekte Wiedergutmachungen
für Unrecht, das den Tieren beim Bahnbau
angetan wird. Solche Ausgleichs- und Er-

satzmaßnahmen sind vom Bundesnatur-
schutzgesetz vorgeschrieben.
Wie schwach der Wille der Bahn ist,
ernsthaft nachhaltig zu wirtschaften, zeigt
das Verhalten in Sachen Pestizidnutzung.
Eigentlich dürfte die Bahn überhaupt kei-
ne Pflanzengifte ausbringen. In Deutsch-
land ist dies nur auf landwirtschaftlich,
gärtnerisch oder forstwirtschaftlich genutz-
tem Kulturland erlaubt.
Deshalb muss sie sich jedes Jahr Son-
dergenehmigungen besorgen. Bis 1998
wurden diese von den Umweltministerien
der Länder ausgestellt, doch im Zuge der
Bahnprivatisierung ging diese Aufgabe an
das vier Jahre zuvor geschaffene Eisen-
bahnbundesamt (EBA) über. Dessen Lei-
tung hatte ein altgedienter Bahner inne,
aufgewachsen in der Denke des Staatsbe-
triebs. Das EBA erteilt die Sondergeneh-
migung seit vielen Jahren in nahezu sel-
bem Wortlaut, das zeigen die Genehmi-
gungsakten, die dem SPIEGELvorliegen.
Bereits in einer Sondergenehmigung
von 1998 findet sich der Passus, dass die
Bahn sich um Minimierung und Vermei-
dung von Pestizideinsatz bemühen müsse
und Alternativverfahren entwickeln solle.
Doch die Forderung ist kaum das Papier
wert, auf dem sie steht. Immer noch wer-
den 93 Prozent der Gleisanlagen mit Her-
biziden besprüht, fast nur Wasserschutz-
und Naturschutzgebiete sind ausgenommen.
»Die chemische Vegetationskontrolle ist
das einzig praxistaugliche Verfahren«, so
steht es in einem Diskussionspapier »Che-
mische Vegetationskontrolle in Gleisanla-
gen« der DB AG vom 15. Juni 2001. Ganz
ähnlich heißt es 17 Jahre später, in einem
Bahnpapier zum Integrierten Pflanzen-
schutz vom 16. Juni 2018: »Die Anwen-
dung nicht chemischer Verfahren im Gleis-
bereich ist ... mangels wirtschaftlich an-
wendbarer Techniken nur in ganz wenigen
Einzelfällen möglich.«
Während die Gesellschaft in den vergan-
genen 20 Jahren eine hohe Sensibilität
gegenüber Umweltgiften entwickelt hat,
scheint die Zeit bei der Bahn stehen ge-
blieben zu sein. Auf Ängste und Einsprü-
che von Bürgern und Kommunen reagie-
ren die Bahn und ihre Aufsichtsbehörde
in aller Regel mit routinierten Absage-
schreiben. Die NRW-Landeshauptstadt
Düsseldorf kann damit inzwischen ganze
Aktenbände füllen.
Seit mehr als 20 Jahren versucht die
Stadt, die Bahn davon abzuhalten, ihre
Gleise im und um das Stadtgebiet herum
mit den umstrittenen Herbiziden zu be-
handeln. Seit Jahren kontrolliert das Um-
weltamt Düsseldorf das Grundwasser, seit
Jahren finden die Beamten in den Brun-
nen entlang der Bahnstrecke die zur Un-
krautvernichtung eingesetzten Mittel.
Der als »wahrscheinlich krebserregend«
eingestufte Wirkstoff Diuron sei bis heute

DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019 57

Wirtschaft

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* Stand 3. Quartal
Quelle: DB

Erneuerbare
Energien
(inkl. Herkunfts-
nachweise)

Steinkohle

Auf der Ökoschiene
Von der Deutschen Bahn ausgewiesener Strommix
2018*, in Prozent

Braun-
kohle

Kernenergie

Erdgas

Sonstige
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