Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

6


Der Alleinherrscher


LeitartikelBoris Johnson sabotiert mutwillig die britische Demokratie.


E


s war im Juni, mitten in der Schlacht um Theresa
Mays Nachfolge, als in London erstmals ein un -
erhörter Gedanke die Runde machte: Was, wenn
der neue Premierminister einfach das Parlament
schließen würde, um ungestört seinen Wunschbrexit durch-
drücken zu können?
»Das ginge gegen alles, wofür unsere Männer (im Zwei-
ten Weltkrieg) an den Stränden gekämpft haben und
gestorben sind«, sagte seinerzeit Matt Hancock, der heute
Boris Johnsons Gesundheitsminister ist. »Das wäre irre«,
sagte Nicky Morgan, die inzwischen Boris Johnsons Kultur-
ministerin ist. »Man setzt eine demokratische Entschei-
dung nicht durch, indem man die Demokratie zerstört«,
sagte Sajid Javid, der Boris
Johnson mittlerweile als
Schatzkanzler dient.
Am Mittwoch nun hat Boris
Johnson angekündigt, dass er
das Parlament demnächst für
fünf Wochen dichtmachen
werde. Er will seinen Wunsch-
brexit von jetzt an im Allein-
gang durchdrücken. Und
soweit man weiß, hat keiner
seiner Minister ernsthaft da -
gegen protestiert.
Man könnte schmunzeln
über diese neueste ironische
Wendung im großen Brexit-
spiel, wenn es nach drei
Jahren wirklich noch etwas
zu lachen gäbe: Da will also
ein Premierminister, der
von nicht einmal 100 000 Mit-
gliedern der konservativen Tories ins Amt gehievt wurde
und der die EU für ein zutiefst undemokratisches Unter-
fangen hält, das – hauchdünne – Ergebnis eines Volks -
entscheids durchdrücken, indem er mal eben die »Mutter
aller Parlamente« in den Zwangsurlaub schickt. Warum
sich mit solch lästigem Gedöns wie dem Wettstreit
von Argumenten und der Suche nach Kompromissen
abmühen, wenn man einfach auf das Recht des Stärkeren
setzen kann?
Um Missverständnisse zu vermeiden: Boris Johnsons
tollkühner Akt ist kein Verfassungsbruch. Faktisch jeder
seiner Vorgänger hat das Parlament vorübergehend suspen-
diert – der Fachbegriff lautet Prorogation –, um mit einer
pompös inszenierten Queen’s Speech eine neue Sitzungs-
periode einzuleiten. Aber seit 1945 hat keiner seiner Vor-
gänger diese Zwangspause auf fünf Wochen ausgedehnt,
und das ausgerechnet in einer Zeit, in der die womöglich
folgenreichste Richtungsentscheidung für das Vereinigte
Königreich seit vielen Jahrzehnten ansteht.

Wenn nichts Gravierendes mehr dazwischenkommt,
wird das Land am 31. Oktober die EU verlassen – und zwar
ohne jedes Abkommen. So ist die gesetzliche Lage. Egal,
was Boris Johnson bis dahin noch versucht, die Wahrschein-
lichkeit ist groß, dass ein funktionsfähiges Parlament ihm
auf die eine oder andere Weise dazwischenkommen würde.
Johnsons De-facto-Koalition mit den nordirischen
Nationalisten von der DUP verfügt im Unterhaus über
gerade noch eine Stimme Mehrheit. Würde er wirklich,
wie er gedroht hat, den harten Bruch mit der EU ohne
Trennungsvertrag riskieren, könnten ihm EU-freundliche
Parlamentarier mithilfe von Tory-Rebellen in den Arm
fallen. Lässt er sich doch noch auf einen Kompromiss mit
Brüssel ein, würden ihn
aller Voraussicht nach die
Hardliner in den eigenen
Reihen auflaufen lassen.
Boris Johnson hat also
recht: Jeder seiner Drohun-
gen in Richtung Europa fehlt
es an Glaubwürdigkeit, solan-
ge Brüssel darauf hoffen darf,
dass das Parlament in Lon-
don das Schlimmste verhin-
dern würde. Mit der Suspen-
dierung des Parlaments, so
hat Johnson es selbst gesagt,
wisse die EU nun: »Diese
Kerle meinen es ernst.«
Es mag sein, dass der Plan
des neuen Premiers aufgeht:
dass er den Brexit Ende
Oktober durchzieht und
anschließend sogar Neuwah-
len gewinnt. Aber was er auf diesem Weg schon jetzt ange-
richtet hat, scheint ihn nicht weiter zu kümmern. Mit sei-
ner Volte hat er Exekutive, Legislative und Judikative auf
bislang ungekannte Weise gegeneinander in Stellung
gebracht. Er treibt zahllose Menschen auf die Straße, deren
Vertrauen in die politischen Institutionen allen Umfragen
zufolge schon jetzt drastisch geschwunden ist. Er perver-
tiert den Schlachtruf »Take back control«, mit dem er einst
das Brexit-Referendum gewann – und gibt den demokrati-
schen Prozess als Ganzes der Lächerlichkeit preis.
Jetzt sei es Zeit zu handeln, hat der Trickser soeben
getönt. Die Zeit zur Aussöhnung komme dann nach dem
Brexit. Wenn er sich da mal nicht täuscht. Gut möglich,
dass sich die Briten und andere künftig ein Beispiel an
Johnson nehmen und mit gutem Grund eingespielte Ent-
scheidungs- und Kontrollprozesse einfach außer Kraft
setzen. In der einen oder anderen Autokratie dieser Welt
dürfte an diesem Mittwoch Perlwein geflossen sein.
Jörg Schindler

DAN KITWOOD / GETTY IMAGES

Das deutsche Nachrichten-Magazin

DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019
Free download pdf