Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

stein aus dem Jahr 2005, von Ermittlungen
gegen den Millionär, von Dutzenden Mäd-
chen, die sich bei der Polizei gemeldet hat-
ten. Sie las von der Durchsuchung von Ep-
steins Villa in Palm Beach, von den Fotos,
die gefunden wurden – auch von Minder-
jährigen, teilweise nackt. Und sie fragte
sich: Was ist aus den Ermittlungen gewor-
den? Zunächst wollte sie nur einen kurzen
Artikel schreiben. »Ich wollte schauen, wie
es den Opfern heute geht.«
Brown ist es nicht peinlich, Empathie
mit ihren Quellen zu empfinden. Zugleich
besitzt sie einen Jagdinstinkt. Als Donald
Trump 2017 beschloss, den früheren Chef -
ankläger von Südflorida, Alexander Acos-
ta, zu seinem Arbeitsminister zu machen,
stieg sie tiefer ein. Brown sagte sich: »Ich
will zeigen, dass Acosta gelogen hat.« Er
habe gesagt, es gebe gar keinen Fall.
Sie habe eine Besessenheit entwickelt,
die sie von sich selbst nicht gekannt habe.
Sie forderte sämtliche öffentlichen Akten
an: vom Sheriff in Palm Beach, von der
Staatsanwaltschaft, dem Gericht, den An-
wälten, vom FBI. Zehntausende Doku-
mente. Sie stapelte sie im Wohnzimmer.
Was Brown las, erschütterte sie. Die Er-
mittler, die 2005 Epstein durchleuchteten,
fanden erdrückende Beweise. Dennoch
war der Straftäter milde davongekommen.
»Es war einfach alles da«, sagt Brown,
»aber niemand kümmerte sich darum.«
Nach zweieinhalb Monaten hatte sie
60 Namen möglicher Opfer herausge-
schrieben, die sie kontaktierte. »Die meis-
ten antworteten gar nicht.« Sie konnte mit
acht Frauen persönlich sprechen, die an-
gaben, von Epstein missbraucht worden
zu sein. Die Hälfte blieb anonym.
Ihr Artikel über den Multimillionär, der
sich das Recht gefügig gemacht hatte, wur-
de im November vorigen Jahres im
»Miami Herald« veröffentlicht. Der Titel
lautet: »Wie ein späteres Kabinettsmitglied
einem Sexualstraftäter den Deal seines Le-
bens bescherte.« Brown zeichnet das Bild
eines Mannes, der sein Geld und seinen
Einfluss nutzte, um ein Netzwerk minder-
jähriger Mädchen aufzubauen, die er se-
xuell ausbeutete, und dann, als er erwischt
wurde, mit der Staatsanwaltschaft in Flo-
rida den Deal des Jahrhunderts aushan-
delte. Es war die Recherche ihres Lebens.
Browns Artikel boten den Strafverfol-
gungsbehörden in New York Gründe dafür,
den Deal zu hinterfragen, den Epstein vor
mehr als zehn Jahren bekam. Anfang Juli
dieses Jahres lässt die New Yorker Staats-
anwaltschaft Epstein an einem Flughafen
in New Jersey festnehmen. Der Vorwurf
gegen ihn: Menschenhandel zum Zweck
der sexuellen Ausbeutung Minderjähriger.
Julie Brown wurde in den USA viel ge-
lobt für ihre Hartnäckigkeit, aber die Ge-
schichte hat für sie nicht nur angenehme
Seiten. Sie wirkt müde, sie sagt, sie trinke


schen. Vor Epsteins Stadthaus an der Up-
per East Side in New York, die Anschrift
lautet 9 East 71st Street, machen Passanten
Selfies. Vor seiner Villa in Palm Beach am
El Brillo Way 358 wacht die Poli zei.
Auch in Paris bekommt man nur eine
vage Idee von seinem früheren Leben. Ep-
steins einstiger Wohnsitz liegt in der Ave-
nue Foch, wenige Minuten vom Triumph-
bogen und den Champs-Élysées entfernt.
Hier verbrachte er die letzten Wochen vor
seiner Festnahme, vom 14. Juni bis zum


  1. Juli. Aus den Fenstern schaut man auf
    einen Park. Auf das Grundstück kommt
    nur, wer den Sicherheitscode für das Ei-
    sentor kennt. Epsteins Anwesen auf der
    Karibikinsel Little St. James lässt sich nur
    per Schiff oder Hubschrauber erreichen.
    Wozu braucht ein Mann all diese abge-
    schotteten Anwesen mit eigenen Lande-
    bahnen und Hubschrauberlandeplätzen?
    Die ersten Anschuldigungen gegen ihn
    wegen sexueller Belästigung tauchten Mit-
    te der Neunzigerjahre auf. Zwei Schwestern,
    damals 23 und 16 Jahre alt, berichteten der
    Polizei, Epstein habe sie zusammen mit
    seiner Assistentin Ghislaine Maxwell be-
    drängt. Der Fall versandete.
    Erst Jahre später starteten Ermittlungen.
    Am 9. Februar 2005, es war ein Mitt-
    woch, stritten sich zwei Mädchen an der
    Royal Palm Beach High School in Florida.
    Das eine Mädchen hatte seine 14-jährige
    Mitschülerin als Prostituierte bezeichnet,
    es kam zur Auseinandersetzung. Als die
    Schulleiterin dazwischenging, fand sie bei
    der 14-Jährigen 300 Dollar in bar. Die
    Schülerin erklärte, sie sei bezahlt worden,
    um einen Mann zu massieren. Gerüchte
    machten die Runde, von Sex war die Rede.
    Wochen später meldete sich die Stief-
    mutter im Palm Beach Police Department.
    Sie erstattete Anzeige. Die Polizei legte
    das Aktenzeichen 1-05-000368 an.
    Einer Polizistin erzählte das Mädchen
    später, sie sei von einer Bekannten an Ep-
    stein vermittelt worden. Er habe sie ange-
    wiesen, sich auszuziehen, habe sich mas-
    sieren lassen und masturbiert. Es war der
    Urknall der Ermittlungen in Florida.
    Die Polizei näherte sich dem Millionär
    vorsichtig. Ließ ihn aus der Ferne obser-
    vieren, durchsuchte seinen Müll, irgend-
    wann lud sie die Vermittlerin vor. Die er-
    klärte, sie habe Epstein weitere fünf Mäd-
    chen zugeführt. Das Netz an Betroffenen
    und Helfern weitete sich aus. Viele Mäd-
    chen berichteten von einer Assistentin na-
    mens Sarah, die die Massageliege und Öle
    vorbereitete; von dem pink-grünen Sofa
    und den Nacktfotos junger Mädchen im
    Haus; von Rückenmassagen, Brustmassa-
    gen, Epsteins sexuellen Vorlieben. Auch


* Opfer Courtney Wild um 2002, Unternehmer Donald
Trump 1992, Prinz Andrew mit Opfer Virginia Roberts
und Epstein-Mitarbeiterin Ghislaine Maxwell 2001,
Anwesen in Palm Beach, Karibikinsel Little St. James.

74 DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019

SCOTT MCINTYRE / DER SPIEGEL

»Ab und zu nahm er eine
an der Hand und ging mit ihr
hoch in den ersten Stock.«

Privatermittler Fisten

zu viel Wein und schlafe zu wenig. Sie sei
stolz auf die Frauen, die sich trauten, von
ihrer Tortur zu berichten, sagt sie. Viele
machten sich selbst schwere Vorwürfe. Sie
beginnt zu weinen. »Diese Frauen hat un-
ser System alleingelassen. Sie wurden um
Gerechtigkeit betrogen.«

Aus dem Verfahren »Jane Doe No. 5 gegen
Jeffrey Epstein«: »Jane und ein anderes
Mädchen wurden zu Epsteins Haus in Palm
Beach gebracht, zum Kücheneingang. Jane
und das andere Mädchen wurden dazu an-
gehalten, ihre Kleidung abzulegen und ihn
zu massieren.«

Jane Doe, so heißen viele mutmaßliche
Opfer in den Akten. Es ist ein Pseudonym
für jene Frauen, die nicht mit echtem Na-
men auftauchen möchten, aus Vorsicht,
aus Scham, aus Furcht vor einer Justiz, die
in ihnen keine Opfer sah, sondern im bes-
ten Fall fragwürdige Zeuginnen. Im schlech-
ten Fall Prostituierte.
Epsteins Boeing 727 trug das Kennzei-
chen N908JE und den widerlichen Spitz-
namen »Lolita-Express«. Ihm gehörten
ein Stadthaus in Manhattan, eine Villa in
Palm Beach im US-Bundesstaat Florida,
eine Ranch in New Mexico, eine Immobi-
lie in Paris und zwei Privatinseln der Virgin
Islands, eine davon nannte er »Little St.
Jeff’s«. Auf seinen Namen waren 16 Autos
zugelassen. Die Mädchen standen einem
Giganten gegenüber.
Es ist gespenstisch, an die Orte zu fah-
ren, an denen der Missbrauch mutmaßlich
stattfand. Vor dem Holzgatter von Epsteins
Ranch in New Mexico steht an einem Tag
Mitte August ein Mitarbeiter von NBC
News, sonst ist der Ort menschenleer.
Drückt man die Klingel neben dem Tor,
meldet sich niemand. Nicht einmal ein Rau-
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