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s ist Freitagabend, einen Tag vor
seinem vielleicht letzten Spiel, als
Marcelo dos Santos zu seiner Bi-
bel greift und das erste Buch
Samuel aufblättert, Kapitel 17, die Ge-
schichte von David und Goliath. Marce-
linho, wie man ihn in Deutschland nennt,
sitzt in der Kantine eines Businesshotels
seiner Heimatstadt Campina Grande, in
das sich die Mannschaft seines Vereins FC
Treze zur Vorbereitung auf das Saison -
finale zurückgezogen hat. Neben ihm
hockt seine Frau Estela. Mitspieler halten
ihre Babys auf dem Arm. Sein Trainer hat
einen evangelikalen Pastor einbestellt, um
im Abstiegskampf die Köpfe einzunorden.
David und Goliath also.
»Wenn ihr die Schlacht morgen gewin-
nen wollt«, ruft der Pastor, der wie ein
Telemarketingverkäufer vor den Stuhlrei-
hen herumspringt, »dann nehmt euch ein
Beispiel an David. David war ein Nie-
mand. Er hatte keine schweren Waffen und
keinen Schild, nur einen Stein und seine
Schleuder. Warum aber konnte er Goliath
besiegen? Weil er sich besonnen hat auf
seine Stärken. Weil er darauf vertraute,
dass Gott ihm seinen Weg wies.«
Jedes dieser Worte saugt Marcelo auf. Er
nickt manchmal dazu. Als sich der Pastor
immer lauter brüllend in ein Gebet hin -
einsteigert, rollen Tränen aus seinen ge-
schlossenen Augen. Er
legt den Kopf auf die
Schulter seiner Frau, es
ist diese Geschichte, die
mehr ist als eine Metapher
auf das Spiel. Es ist eine
Metapher auf sein Leben.
Marcelo war ein David,
als er um die Jahrtausend-
wende den armen Ver-
hältnissen seiner Kindheit
entkam und in Europa ein
Star wurde, der Millionen
scheffelte. In Berlin bei
Hertha BSC, wo er seine
besten Jahre hatte, flogen
ihm die Herzen zu. Mit
seinen Kunststücken und
bunten Frisuren verlieh er
nicht nur seinem grauen
Klub ein wenig Glanz,
sondern der ganzen Liga. Noch heute ha-
ben viele nicht vergessen, wie er einmal
den Ball vom Mittelkreis über den Frei-
burger Torwart im Netz versenkte.
79 Tore erzielte Marcelinho für die Her-
tha, dafür verziehen sie ihm die Eskapa-
den und Exzesse, die er außerhalb des Plat-
zes aneinanderreihte. In einer Zeit, als Fuß-
ballprofis noch in luftigeren Korsetten
steckten, feierte Marcelinho auch nach
Niederlagen die Nächte durch. Einmal ver-
lor er seinen Führerschein, als er mit
1,27 Promille Alkohol im Blut über den
Kaiserdamm raste. Er raufte sich im Suff,
und im Sommer verlängerte er eigenmäch-
tig seinen Heimaturlaub. Der Boulevard
verlor ihn auch nicht aus dem Blick, als er
2008 nach Brasilien zurückkehrte.
Marcelinho – Anklage wegen versuch-
ter Vergewaltigung. Marcelinho – nach
Haftbefehl auf der Flucht. Marcelinho –
Schlaganfall mit 42. Das waren dann die
Schlagzeilen der vergangenen Jahre, und
sie zeichneten das Bild eines Goliaths, den
das Leben zu besiegen schien.
Während sich seine ehemaligen Mann-
schaftskameraden Niko Kovač und Pal
Dardai als Trainer etablierten, während
sich Fredi Bobic und Michael Preetz als
Manager neu erfanden, brachte Marcelin-
ho sein Vermögen durch. Für 14 Vereine
trat er seit der Rückkehr an. Er spielte ein-
fach immer weiter. Jetzt
ist er 44 und wieder dort,
wo alles angefangen hat,
im armen Nordosten Bra -
siliens, dritte Liga, wo
der Abstiegskampf noch
mehr als anderswo ein
Existenzkampf ist.
Immer wieder hatte er
zuletzt angedeutet, dass
nach dieser Saison end-
lich Schluss sein könnte.
Sollte er das wirklich
ernst meinen, stellt sich
die Frage, was nach einer
Telenovelakarriere wie
dieser bleibt. Was wird
aus einem, der nicht klar-
kam mit der Welt, die ihm
sein Talent erschloss? Wo-
von zahlt Marcelo dosSantos, der den Traum fast aller brasilia-
nischen Kinder lebte, künftig seine Rech-
nungen?
Am Donnerstag, zwei Tage vor dem
Spiel, parkt Marcelo seine kleine, rote
Rostlaube vor einem Restaurant, in dem
man das Essen nach Kilopreis bezahlt. Sei-
ne Frau Estela ist dabei, die die zahllosen
Mädchen, mit denen er sie über die Jahre
betrogen hat, meist still erduldete. Die bei-
den haben eine Tochter, die Architektur
studiert, und einen 16-jährigen, äußerst ta-
lentierten Sohn, der in São Paulo kickt.
Seine Haare färbt Marcelo heute nicht
mehr blond. Seine Falten um die Mund-
winkel sind mittlerweile tiefe Furchen.
Wenn er beim Beten vor dem Essen den
Kopf mit ernster Miene senkt, wirkt er wie
ein Mann, der ein paar heftige Erschütte-
rungen hinter sich hat.82
SportWas für ein Film
Fußball Marcelinho war ein Paradiesvogel der Bundesliga.
Von seinen Millionen blieb so gut wie nichts übrig.
Wie verkraftet der 44-Jährige das Ende seiner Karriere?Von Marian Blasberg
JAN BAUER / AP
Hertha-Profi Marcelinho 2006
»Da kletteten Blutsauger an ihm«