Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

Wojcicki, 79, lehrt seit 36 Jahren an der
staatlichen Highschool im kalifornischen
Palo Alto. Zu ihren Schülern gehören Töch-
ter und Söhne einflussreicher Persönlich-
keiten aus dem Silicon Valley, unter ande-
rem die Kinder des Apple-Gründers Steve
Jobs. Wojcicki berät Politiker, Unternehmer
und Stiftungen und hat ein viel beachtetes
Erziehungsbuch geschrieben (»How to Raise
Successful People«), das jetzt auf Deutsch
erscheint*.


folgreiche Wissenschaftler und Autoren.
Auch meine Töchter lassen sich als Beleg
anführen: Susan, die älteste, ist Chefin von
YouTube. Janet, die mittlere, ist Professo-
rin für Kinderheilkunde an der Universität
von San Francisco, und die jüngste, Anne,
hat »23 and Me« gegründet – ein Gentech-
nik-Unternehmen, bei dem man sein Erb-
gut analysieren lassen kann.
SPIEGEL:Und was genau hat die Kindheit
Ihrer Töchter und erfolgreichen Schüler
zu einer glücklichen Zeit gemacht?
Wojcicki:Sie alle haben früh gelernt, un-
abhängig zu denken und zu handeln. Das
mag nach einer Selbstverständlichkeit klin-
gen, aber viele Erwachsene lassen das
nicht zu: Sie meinen, sie müssten Kindern
immerzu sagen, was zu tun ist. Sie wollen
sie um jeden Preis beschützen.
SPIEGEL:Was ist daran so falsch?
Wojcicki:Solange man Heranwachsende
davor bewahrt, in ein Auto zu laufen oder
im Pool zu ertrinken, ist es richtig. Aber
Erwachsene beschneiden die Kreativität
und den freien Geist der Kinder, wenn sie
als Helikoptereltern ständig besorgt um
sie herumkreisen oder sie wie die soge-
nannten Tigereltern zu Höchstleistungen
treiben. In beiden Fällen bleibt wenig
Spielraum, um das zu entwickeln, was
später ein erfolgreiches Leben auszeich-
net: Unabhängigkeit, Vertrauen, Respekt,
Dankbarkeit und Freundlichkeit.
SPIEGEL:Das müssen Sie erläutern.
Wojcicki:Kinder können nur dann einen
stimmigen Platz im Leben finden, wenn
ihre Eltern und Lehrer darauf vertrauen,
dass sie selbst ihn finden. Das setzt voraus,
dass die Erwachsenen die Interessen, Fä-
higkeiten und Persönlichkeiten der Kinder
respektieren, auch wenn sie von den eige-
nen Idealen und Plänen abweichen. Das
kann sehr hart für Eltern sein. Aber wenn
sie die Nerven verlieren, drehen wahr-
scheinlich irgendwann auch die Kinder
durch, und das Familienleben wird wahn-
sinnig anstrengend.
SPIEGEL:Sie werben in Ihrem Buch dafür,
dass sich Väter und Mütter wie Panda -
eltern verhalten sollen – möglichst ent-
spannt und keinesfalls überbehütend.
Damit greifen Sie das alte Ideal einer si-
cheren Bindung auf: Erwachsene sollen
Kindern Geborgenheit vermitteln und
ihnen gleichzeitig den notwendigen Frei-
raum einräumen, damit sie sich zuneh-
mend selbstständig in der Welt zurecht-
finden. Das hört sich nicht sonderlich
kompliziert an.
Wojcicki:Von wegen. Selbst Eltern und
Lehrer, die diese Theorie vertreten, halten
sich nicht daran. Erwachsene machen Kin-
dern meistens viel mehr Vorschriften als
nötig. Wir Menschen fühlen uns mächtiger
und daher besser, wenn wir andere kon-
trollieren können. Ein bisschen Machiavelli
steckt in uns allen.

92 DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019


Wissenschaft

»Scheitern lernen«


ErziehungDie US-amerikanische Pädagogin Esther Wojcicki hat
drei bestens geratene Töchter. Wie sie das geschafft hat?
Indem sie nie versucht hat, eine Helikopter-Mutter zu sein.

BILL DELZELL/ LIGHTGRID STUDIOS
Autorin Wojcicki mit Bild ihrer Töchter: »Erwachsene beschneiden die Kreativität«

SPIEGEL:Frau Wojcicki, Sie sind davon
überzeugt, dass Menschen mit einer glück-
lichen Kindheit ein besonders erfolg -
reiches Leben führen. Wie kommen Sie
darauf?
Wojcicki:Viele meiner ehemaligen Schü-
ler geben dafür beste Beispiele ab. Sie lei-
ten mittlerweile Unternehmen oder sind er-

* Esther Wojcicki: »Panda Mama«. Ullstein; 256 Seiten;
19,99 Euro. Erscheint am 13. September.
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