Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

SPIEGEL:Vielen Eltern geht es in erster
Linie darum, ihre Kinder vor Schwierig-
keiten und Gefahren zu bewahren. Haben
Sie dafür kein Verständnis?
Wojcicki:Schon, aber es ist in der Regel
verkehrt. Kinder müssen lernen zu schei-
tern, sonst sind sie spätestens bei ihrem
Eintritt ins Arbeitsleben überfordert.
Häufig beklagen Geschäftsführer großer
Unternehmen, dass ihre jungen Mitar -
beiter nur in alten, vertrauten Mustern
denken, weil sie lähmende Angst vor dem
Scheitern haben. Diese anerzogene Furcht
vor Fehlern behindert jede Kreativität.
Wir brauchen junge, quer denkende
Leute, sonst finden wir keine guten
Lösungen für den Kampf gegen die Ar-
mut, den Klimawandel, die Mangel -
ernährung und alle anderen anstehenden
Probleme.
SPIEGEL:Wollen Sie damit sagen,
dass Helikoptereltern den gesell-
schaftlichen Fortschritt behindern?
Wojcicki:Der Perfektionismus, auf
den ehrgeizige Eltern ihre Kinder
heute in vielen Ländern der Welt
trimmen, engt unsere Gesellschaf-
ten ein. Und er schadet den Kin-
dern – übrigens mindestens so viel
wie der viel offensichtlichere Drill,
mit dem Tigereltern ihre Söhne
und Töchter zu maximalen Leistun-
gen treiben wollen. Ich habe Amy
Chua kennengelernt ...
SPIEGEL:... jene Hochschullehre-
rin, die vor einigen Jahren als
»Tiger Mom« berühmt wurde.
Wojcicki:Sowohl sie als auch ihre
nun erwachsenen Töchter berich-
ten, dass sie das Familienleben als
furchtbar anstrengend empfunden
haben. Dabei kann es so viel Freu-
de bereiten, wenn man nur den Perfek -
tionsanspruch aufgibt. Ich bin ziemlich
vertraut mit dem Innenleben von Google.
Larry Page und Sergey Brin, die beiden
Gründer, haben das Unternehmen in der
Garage meiner ältesten Tochter erfunden.
SPIEGEL:Und?
Wojcicki:Mehr als 50 Prozent der Projek-
te in ihrer Firma scheitern. Aber sie schei-
tern vorbildhaft, weil Fehler nicht als Ma-
kel gelten. Man lernt vielmehr daraus und
schafft so die Grundlage für späteren Er-
folg. Eine ähnliche Haltung wünsche ich
mir in der Erziehung.
SPIEGEL:Wie können Eltern ihren Kin-
dern beibringen, erfolgreich zu scheitern?
Wojcicki:Zuerst einmal müssten sie ihnen
überhaupt die Möglichkeit dazu einräu-
men. Viele Eltern strukturieren schon am
Sonntagabend den Ablauf der gesamten
kommenden Woche kleinteilig vor. Gegen
einen straffen Stundenplan mit Tennistrai-
ning, Klavierunterricht und Ballett ist über-
haupt nichts einzuwenden. Doch zwischen-
durch brauchen Kinder unverplante Stun-


den, in denen sie einüben können, ihre
Ideen ohne Anleitung auszuprobieren und
einfach mit ihren Freunden zu spielen. Nur
so bilden sich Kreativität, freier Geist und
eine innere Unabhängigkeit heraus.
SPIEGEL:Wie haben Sie Ihren Töchtern
diesen Freiraum früher verschafft?
Wojcicki:Ihr Alltag war davon bestimmt,
dass sie ihre Ziele aus eigener Kraft errei-
chen sollten. Sie kauften gern in einem La-
den um die Ecke Süßigkeiten ein, beka-
men dafür von mir aber kein Geld. Eine
Nachbarin überließ ihnen allerdings die
Früchte ihres Zitronenbaums kostenlos
zum Pflücken, und meine Töchter verkauf-
ten die Zitronen dann erfolgreich an den
Haustüren im Viertel. Auch wenn Eltern
ihren Kindern Aufgaben im Haushalt über-
tragen, fördern sie deren Un abhängigkeit.
Es stärkt ein Kind, wenn es merkt, dass es

die Möhren für seine Mahlzeiten eigen-
händig schälen kann – selbst wenn es an-
fangs über solche Pflichten meckert, weil
es bequemer ist, sich bedienen zu lassen.
SPIEGEL:Was raten Sie Eltern außerdem?
Wojcicki:Sie sollten Kindern im Grund-
schulalter zutrauen, Wege allein zurück-
zulegen. Manche Eltern kontrollieren noch
in der Teenagerzeit jede Bewegung mit -
hilfe einer App. Zugleich führen sie Kämp-
fe, weil ihre Söhne und Töchter ständig
das Smartphone nutzen. Das wirkt ziem-
lich unglaubwürdig. Es entspannt das Fa-
milienleben ungemein, wenn beide Seiten
mal eine Zeit lang auf elektronische Me-
dien verzichten – allein weil der Stress an-
dauernder Kontrolle wegfällt. Und noch
ein Ratschlag: Wir sollten uns an scheinbar
lästigen oder überflüssigen Einfällen unse-
rer Kinder nicht so abarbeiten.
SPIEGEL:An welche Einfälle denken Sie?
Wojcicki:Einer meiner Enkel hat kürzlich
alle Kleidungsstücke auf links gedreht und
angezogen. Es hat ihn viel Mühe gekostet,
er geht noch in den Kindergarten. Aber er

war sehr stolz auf seine Art der Mode und
wollte sie unbedingt bei einem Spazier-
gang ausführen. In solchen Momenten soll-
ten Erwachsene Humor beweisen, statt auf
ein angepasstes Verhalten zu pochen. Vie-
le Eltern schämen sich viel zu schnell für
ihre Kinder, weil sie um ihr Image fürchten.
SPIEGEL:Liebäugeln Sie am Ende mit einer
antiautoritären Flower-Power-Erziehung?
Wojcicki:O nein. Wären wir zu einem
fest lichen oder offiziellen Anlass aufgebro-
chen, hätte ich meinem Enkel erklärt, warum
er sich in diesem Fall ordentlich kleiden muss.
Kinder zu respektieren bedeutet, sie weitest -
möglich einzubeziehen und mitentscheiden
zu lassen. Wenn wir Erwachsenen grundsätz -
lich auf den eigenen Prinzipien beharren,
nehmen wir Kindern Mut und Selbstver-
trauen. Eine steigende Zahl von Jungen und
Mädchen leidet an depressiven Gedanken.
SPIEGEL:Das führen Sie auf eine
falsche Erziehung zurück?
Wojcicki: Nicht ausschließlich.
Aber die Kindheit hat sich zu einer
Lebensphase entwickelt, die zuneh-
mend von Sorgen und Ängsten
überschattet wird. Überall befürch-
ten Kinder und Eltern, die vermeint-
lich an sie gestellten Ansprüche
nicht erfüllen zu können. Ich will
den Druck nicht kleinreden, aber
diese Furcht ist übertrieben.
SPIEGEL:Auch Ihre Überlegungen
kreisen um den beruflichen und so-
zialen Erfolg eines Menschen. Was
ist, wenn der ausbleibt?
Wojcicki:Mir geht es um ein erfüll-
tes Leben, nicht um den Status. So-
lange jemand seiner Arbeit oder
seinen Interessen mit Leidenschaft
nachgeht, halte ich ihn für erfolg-
reich. Dazu gehört auch die Suche:
Meine Tochter Janet hatte bereits Interna-
tionale Beziehungen und Afroamerikani-
sche Geschichte studiert, bevor sie wusste,
dass sie Ärztin werden wollte. Und Susan
hat alle möglichen Jobs ausprobiert. Um
wählen und erkennen zu können, welcher
Lebensweg erfüllend ist, braucht man al-
lerdings eine gute Bildung und engagierte
Lehrer. Sie haben neben den Eltern gewis-
sermaßen den zweiten Hauptschlüssel in
der Hand, das habe ich selbst erlebt.
SPIEGEL: Inwiefern?
Wojcicki: Ich stamme aus einer traditionel-
len jüdischen Familie, und als mein Bruder
geboren wurde, teilte mein Vater mir mit,
dass von nun an die Zukunft des Sohnes
wichtiger sei. Ich war damals 8 Jahre alt,
ich hätte mit spätestens 20 Jahren heiraten
und viele Kinder bekommen sollen. Aber
die Schule mit ihren Angeboten, dieser Kos-
mos neuer Ideen und Gedanken, verhalf
mir zu Widerstand und Unabhängigkeit.
Interview: Katja Thimm
Mail: [email protected]

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TAYLOR HILL / GETTY IMAGES
Wojcicki-Töchter Anne, Janet und Susan
»Sie hat alle möglichen Jobs ausprobiert«
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