Der Spiegel - 31.08.2019

(lily) #1

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Kultur

Architektur

Sieben Kilometer Weltliteratur


 Das neue Suhrkamp-Haus in Berlin-Mitte wirkt fast so,
wenn man von Stockwerk zu Stockwerk nach oben steigt,
als hätte der Architekt Roger Bundschuh das Haus um all
die Werke des Traditionsverlags herumgebaut. Fast sie-
ben Kilometer Bücher, so erklärt Suhrkamp-Sprecherin
Tanja Postpischil beim Durchschreiten des neuen Domi-
zils, seien da aus dem Übergangshaus in der Pappelallee
mit umgezogen. Eine literarisch-logistische Meisterleis-
tung. 24 Meter Hermann Hesse. 11 Meter Proust, mehr
als ein halber Kilometer internationale Ausgaben. Nichts
von der literarischen Suhrkamp-Weltgeschichte der ver-
gangenen 69 Jahre verschwindet in Kellern oder Archi-
ven. An allen Bürowänden, in den lichten, hohen Gängen
des Hauses, am Rande der Treppen: Bücher, geordnet
nach Erscheinungstermin. Da die Pastelltreppe mit den
Insel-Taschenbüchern in Rosa, Grün und Weiß, da die
große Wand mit der Bibliothek Suhrkamp, dort die
Regen bogenwand mit den Büchern der edition suhrkamp,
im obersten Stockwerk zum Beispiel die Max-Frisch-Welt
mit allen Lizenzausgaben von überall. Suhrkamp ist gera-
de erst eingezogen, Mitarbeitergrüppchen spazieren
durchs Haus, scheinen selbst zu staunen, dass der Umzug
termingerecht, nach nur zwei Jahren Bauzeit, geklappt
hat. Von außen wirkt die von großen Fensterflächen durch-
schossene Aluminiumfront, gemeinsam mit dem auf der
anderen Seite der Straße ebenfalls von Bundschuh ent-
worfenen tiefschwarzen Wohn- und Ge schäftshaus wie
ein eckiges Yin-und-Yang-Einfallstor zum Rosa-Luxem-
burg-Platz. Drinnen kommt die Suhrkamp-Legende Rai-
mund Fellinger vorbei. »1000 Bü cher habe ich lektoriert«,
sagt Fellinger. Von seinem Riesen fenster sieht man den
Fernsehturm am Alexanderplatz, den großen Himmel.
Was schlecht sei im Haus? »Eigentlich nur das große Fens-
ter«, sagt er. Das lenke doch ab. Schön wäre ein kleines,
fensterloses Kabuff, sagt er und lacht. Er weiß, er wird
mit dem Fenster leben müssen. VW

Der Mensch ist dem Menschen nicht immer ein Wolf, aber fast immer ein Rätsel.‣S. 96

DER SPIEGEL Nr. 36 / 31. 8. 2019

Literatur


Ein Fisch namens Göring


 Der Trend zum 1000-Seiten-Roman
schien in den vergangenen Jahren unauf-
haltsam, wer etwas zu sagen hatte, sagte
es ausführlich. Der preisgekrönte junge
französische Autor Joachim Schnerf setzt
dem nun einen schmalen Band entgegen,
der es in sich hat: »Wir waren eine gute
Erfindung«. Auf 144 Seiten entfaltet diese
Erzählung aus der Perspektive des Holo-
caust-Überlebenden Salomon, dessen
grausige Witze über die Judenvernichtung
regelmäßig seine Zuhörer in Schockstarre


versetzen, große Sogkraft. Salomon wacht
auf, und zwischen Traum und Wirklich-
keit beginnt er sich zu erinnern: an seine
geliebte Frau Sarah, die kürzlich verstor-
ben ist, an Familienfeste und daran, dass
er in einigen Stunden zum ersten Mal
allein dem Sederabend vorsitzen muss.
Bei dem Fest am Abend vor Pessach geht
es um den Auszug des Volkes Israel aus
Ägypten, es geht ums Überleben, um die
Gemeinschaft und die Frage »Wer sind
wir?«. Es war Sarah, die die Familie all die
Jahrzehnte über zusammenhielt: die zwei
neurotischen Töchter, deren ziemlich selt-
samen Ehemänner, die zwei Enkelkinder.

Sarah war es, die Salomon neuen Lebens-
mut gab, als er nach dem Krieg aus dem
Lager zurückkam, und Sarah blieb bei
ihm, auch als er die Goldfische der Töch-
ter Goebbels und Göring nannte. Ein
Leben ohne Sarah scheint unvorstellbar –
doch sie ist nicht mehr da. Dieses poeti-
sche Buch handelt von Verlust, Verzweif-
lung, Vergänglichkeit. Einerseits. Anderer-
seits wird der Text getragen von Liebe,
Hoffnung und – manchmal bitterer – Hei-
terkeit. KS
Joachim Schnerf: »Wir waren eine gute Erfindung«.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Kunst-
mann; 144 Seiten; 18 Euro.

PAUL LANGROCK / DER SPIEGEL
Suhrkamp-Gebäude in Berlin
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