Mittwoch, 21. August 2019 MEINUNG & DEBATTE
Salvini stellt demokratische Verfahren in Italien infrage
Matteo gegen Matteo
Matteo Salvini, der Chef der italienischenRechts-
populisten, hat in denWahlkampfmodus geschal-
tet und einen alten Lieblingsfeind neu entdeckt:
den früherenRegierungschef MatteoRenzi vom
Partito Democratico, den Vertreter der «alten»
Politik und der altenParteien, die Salvini beseiti-
gen will. Gegen ihn inszeniert er jetzt einen Zwei-
kampf: Matteo Salvini gegen MatteoRenzi, das
«Neue» gegen das «Alte», die Zukunft gegen die
Vergangenheit.
Salvini hat dieKoalitionsregierung inRom zum
Einsturz gebracht, es dauerte etwas länger als ge-
plant, aber es gelang. Jedoch wird voraussichtlich
nicht sogleich eine neueWahl anberaumt werden,
da hat er sich zumindest vorläufig nicht durch-
gesetzt.Das Parlament, vor anderthalbJahren ge-
wählt, ist weiterhin im Amt. Im Schosse diesesPar-
laments beginntjetzt die Suche nach einer neuen
Regierungsformel. SolcheVerhandlungen gestalten
sich in Italien oft langwierig, und derAusgang ist in
diesemFall höchst ungewiss.
Renzi will die Kräfte der Linken und der Mitte
bündeln, eine neueKoalition und eine neueRegie-
rung bilden. Er will Neuwahlen verzögern, um
einen drohendenWahlsiegSalvinis mit anschlies-
sender Machtübernahme zu verhindern oder jeden-
falls zu verzögern und abzuschwächen.Und erhofft
auf seine eigeneRückkehr an dieMacht. Der eins-
tige Ministerpräsident schien mehr oder weni-
ger abgeschrieben,doch jetzt sieht er seine neue
Chance gekommen. Er versucht, in einemkonfu-
sen Moment das Blatt durch geschicktesTaktieren
zu seinen Gunsten zu wenden.
Renzi ist auf diePopulisten der Cinque Stelle
angewiesen. Sie haben die stärksteVertretung im
Parlament, auf ihre Stimmenkommt es in erster
Linie an, wenn eine neueRegierung gebildet wer-
den soll. Die CinqueStelle bildeten mit Salvinizu-
sammen dieRegierung, bis dieser dieKoalition
Knall aufFall kündigte, um seinePartner unsanft
aus Amt undWürden zu jagen. Ihnen bietet sich
nun dieAussicht auf ein Ersatzbündnis. Manchen
mag dies verlockenderscheinen , allerdings müss-
ten sie sich ziemlich verkrümmen;immerhin waren
die Cinque Stelle in der letztenWahl als Anti-Sys-
tem-Partei angetreten. Und nur wenig spricht da-
für, dass sie in einerkünftigenKoalition mitRenzi
glücklicher würden als in der gescheiterten mit Sal-
vini. Weiterhin haben siekein Ziel undkein Pro-
gramm und auchkeine gefestigteBasis, die Leute
laufen ihnen davon.
Salvini hat aber Eile, er willWahlen möglichst
bald, denn die Umfragen stehen derzeit gerade
günstig für ihn. 36 Prozent Zustimmung für seine
Lega-Partei werden gemeldet,vor kurzem waren es
sogar 38 Prozent. Mit so vielen Stimmenkönnte er
dank – von derVerfassung gewollten–Verzerrun-
gen imWahlsystem in beiden Kammern desParla-
mentsnahe an eine Mehrheitkommen, zusammen
mit den Neofaschisten wohl darüber. Eine neue
Koalitionsregierung mit BeteiligungRenzis will er
mittels Massenkundgebungen verhindern.
«Wir werden uns friedlich auf Italiens Plätzen
versammeln, um dasWahlrecht einzufordern»,
kündigt Salvini an für denFall, dass die politischen
Gegner sich zusammenraufen und eine neueKoali-
tion bilden werden.Nach seinemDafürhalten steht
der Wille mobilisierterVolksmassen über den Ent-
scheiden der demokratisch gewähltenVolksvertre-
ter. Darum geht es im Kampf Matteo gegen Mat-
teo: Matteo Salvini will demokratischeVerfah ren
mit Druck von der Strasse aushebeln, wenn ihm
deren Ergebnis nichtpasst undetwaMatteoRenzi
per Parlamentsbeschluss wieder in dieRegierung
einzieht.Solange der Protest friedlich bleibt, ist da-
gegen nichtseinzuwenden. Demonstrieren gehört
zu den demokratischen Grundrechten.
Nur wenig spricht dafür,
dass die Cinque Stelle
in einer künftigen Koalition
mit Renzi glücklicher
würden als in der
gescheiterten mit Salvini.
NationalbankundAHV
So verkauft man die Stimmbürger für dumm
DasSeeungeheuer im schottischen Loch Nesshat
ein Pendant in der SchweizerPolitik: die Verwen-
dung von Geldern der Nationalbank (SNB) für
einen der unzähligen gutenPolitikzwecke. In auf-
fälliger Kadenz sichten findigePolitiker die Lösung
einesFinanzproblems imAbzweigen von SNB-Gel-
dern,doch ein bisschen Nachdenken genügt,um die
Sache als Illusion zu entlarven.
In jüngerer Zeit warenVorschläge zurVerwen-
dung von Notenbank-Vermögen für die AHV in
Mode. Im November 2018 forderte eine parla-
mentarische Initiative des ZürcherSVP-National-
rats Thomas Matter, dass unter gewissen Umstän-
den einTeil des SNB-Eigenkapitals der AHV zu
überweisen sei. Ein anderer ZürcherSVP-Natio-
nalrat,Alfred Heer, deponierte im Dezember eine
Motion,wonach die von der Nationalbank erhobe-
nen Negativzinsen derAHV zuzuweisen seien.Von
2015 bis 20 18 entspräche dies laut Bundesrat etwa
7 Milliarden Franken. Nun spielte Heervia «Sonn-
tags-Zeitung» öffentlich mit dem Gedanken einer
Volksinitiative für das Anliegen.
Werdie VerwendungvonSNB-Geldernfüreinen
politischen Zweck fordert, will typischerweise die
Bürger durchVerschleierung derKosten für dumm
verkaufen. Ehrlicher wäre derVorschlag, dass der
Bund von seinem Budget zum Beispiel eine Mil-
liarde Franken zusätzlich zugunsten des guten
ZwecksX verwenden soll.Dann is t klar, dass diese
Milliarde für die unzähligen anderen guten Zwecke
fehlen würde oder eine Steuererhöhung nötig wäre.
BeiVorschlägen zur Notenbank geht es dagegen
auf den ersten Blick nur darum, «überschüssiges»
SNB-Vermögen zu verwenden, das sonst bloss
nutzlos herumläge. Im Ergebnis ist aber dieVer-
wendung von SNB-Geldern zum Beispiel für die
AHV das Gleiche wie die Subventionierung mit
Geldern ausdem Bundeshaushaltund den Kan-
tonshaushalten. Denn früher oder später wird die
Nationalbank einfach entsprechend weniger Ge-
winne an Bund und Kantone ausschütten.DiePoli-
tik müsste dieskompensieren durch Minderausga-
ben anderswo oder durch Steuererhöhungen.
Die genannte Motion von Alfred Heerlegt
wenigstens offen, dass das gewünschteAbzweigen
von Notenbank-Geldern für dieAHV voll zulasten
derAusschüttung des Bundesanteils am SNB-Ge-
winn gehen solle. SVP-Politiker mögen hoffen,dass
die bürgerlicheMehrheit im Bundesparlament eine
Kompensation nicht über Steuererhöhungen, son-
dern ausschliesslichüberEinsparungenbeschlies-
sen würde (aber bitte nicht bei der Armee und den
Bauern!). DieseAussicht bringt die Linke in ein
Dilemma:Sie liebtAHV-Subventionen – aber diese
sollen aus Sicht der Linken nicht zulasten ihrer
anderen Hobbys gehen, sondern mit Lohnbeiträ-
gen oder Steuererhöhungen finanziert sein.
Im Strauss der guten Zwecke ist di eAHV aus
finanzpolitischer Sicht nichts Besonderes.Wer SNB-
Gelder für die AHV fordert,könnte dies ebenso
gut auch für Bildung,Forschung,Verkehr, Ent-
wicklungshilfe,Asylwesen,Landwirtschaft, Steuer-
senkungen und für alle anderen Segnungen tun.
Doch fürPolitiker ist dieAHV besonders attraktiv.
Das Sozialwerk ist populär. Und jederAusbau der
Subventionen (die jetzt schon40 bis45 Prozent der
AHV-Einnahmen ausmachen) geht schwergewich-
tig zulasten derJüngeren, die als Wähler wenigbe-
deutend sind. Noch attraktiver wird die Sache für
Politiker, wenn sie die ohnehin schon schwer nach-
vollziehbareKostenverteilung durch das Abzwei-
gen von SNB-Geldern zusätzlich verschleiernkön-
nen. Die SchweizerVersion des Loch-Ness-Unge-
heuers wird nicht so leicht totzukriegen sein.
Früher oder später
wird die Nationalbank
einfach entsprechend
weniger Gewinne
an Bund und Kantone
ausschütten.
Zürcher Umwelt- undEnergiepolitik
Neukoms Kurs ruft nach einer klugen Reaktion
Vielleichtkommt es ja doch nicht so schlimm:Das
hat sich womöglich so mancher Bürgerliche ein-
geredet, als der ZürcherRegierungsrat imFrüh-
ling ausgerechnet das grüne Neumitglied Martin
Neukom dieBaudirektion übernehmen liess – also
jenes Departement, in dem die für die Ökologie
zentralen Umwelt- und Energiebereiche angesie-
delt sind. Mentale Beruhigungspillen gab es genug:
Das Abflauen des «Klima-Hypes», die bürgerlich
dominierte Gesamtregierung oder dieTrägheit der
Abläufe verhinderten schon, dass der Solaringe-
nieur seine grünen Ideen allzu forsch vorantreiben
könne, konnte man sich vorgaukeln.
Wer so dachte, solltespätestens jetzt seine
Meinung ändern. Denn Neukom legte an seiner
100-Tage-Bilanz den gleichen Elan an denTag wie
imWahlkampf und wirkt gewillt,seineVersprechen
nach Möglichkeit zu verwirklichen. Zwar hat er
nochkein ausgearbeitetes Gesetz präsentiert, aber
für die nächsten Monate mehrere angekündigt.
Zum Beispiel will er dieAusgaben für den Natur-
schutz erhöhen und damit eine langjährigeForde-
rung von Links-Grün erfüllen.
Zentraler wird aus bürgerlicher Sicht das neue
Energiegesetz sein, dasVorschriftenimGebäude-
bereich zum Inhalt haben wird, etwa zum Ersatz
einer alten Heizung. Da sich mit der Sanierung
von Liegenschaftender Verbrauch deutlich sen-
ken lässt, gilt das Gesetz als eines der wichtigsten
Schwungräder für die Energiewende im Kanton
Zürich. Eine ersteVersion wurde noch von Neu-
koms Vorgänger, dem SVP-Regierungsrat Markus
Kägi, in dieRunde gegeben. Schon damals gingen
die Vorschläge dem kantonalen Hauseigentümer-
verband viel zu weit,so dass er es rundum ablehnte.
Die Hoffnung, dass in seinem Sinn nachgebessert
wird,ist kaumrealistisch.Neukom hat ausdrücklich
mitgeteilt, das Gesetz in eine «ökologischere Rich-
tung» führen zu wollen.Was dieskonkret bedeutet,
bleibtabzuwarten.Aber Deregulierung und Büro-
kratieabbau dürften nicht gemeint sein.
Erschwerendkommt für die Bürgerlichen hinzu,
dass ökologische Anliegen mit Neukom nicht nur
einen starkenTreiber imRegierungsrat, sondern
au ch eine satte Mehrheit im Kantonsrat haben.
Theoretisch ist denkbar, dass der neueBaudirek-
tor von seinenRegierungskollegen ein ausgewoge-
nes Gesetzgutheissen lässt und dassdie Ökopar-
teien imParlament es noch deutlich verschärfen.
Wollen die Bürgerlichen NeukomParoli bieten
undihreInteressenwahren,brauchensieeinekluge
Abwehrstrategie, die wederFundamentalopposi-
tion noch Defaitismus enthält. Mitkonstruktiven
Vorschlägen lassen sich die moderateren Kräfte im
parlamentarischenProzessaufdieliberaleSeitezie-
hen. Angepeilt werden sollte eine Gesetzgebung,
die sich an erreichbaren Zielen orientiert, mitrea-
listischenÜbergangsfristenoperiert,ausbalancierte
Kosten-Nutzen-Verhältnisse anstrebt und nicht zu
übermässigenKosten für Private führt.
Der Wirtschaftskanton Zürich ist in den Berei-
chenRaumplanung, Energie und Umwelt in letzter
Zeitoftnichtvorangegangen.DieserKurskannmit-
unter höhereKosten verursachen als geplant, wie
in der jüngst das Beispiel der Mehrwertabgabe ge-
zeigt hat. DieBaudirektion hatte die Umsetzung
der Bundesvorgaben so lange hinausgezögert, bis
derHandlungsdruckunterdemvonobenverordne-
ten Einzonungsstopp erdrückend wurde.Am Ende
willigen die Bürgerlichen in einenKompromiss ein,
bei dem die Hauseigentümer deutlich tiefer in die
Tasche greifen müssen, als einst angestrebt worden
war.Frühzeitiges Mitgestalten und klugeAllianzen
können helfen, den Schaden in Grenzen zu halten.
Neukom legt an seiner
100-Tage-Bilanz den gleichen
Elan an denTag wie im
Wahlkampf und wirkt gewillt,
seineVe rsprechen nach
Möglichkeit zu verwirklichen.