Frankfurter Allgemeine Zeitung - 30.08.2019

(Dana P.) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Briefe an die Herausgeber FREITAG, 30. AUGUST 2019·NR. 201·SEITE 29


Zum Artikel „Ein Europa von Lissabon
bis Wladiwostok“ (F.A.Z. vom 20. Au-
gust): Eine engere Zusammenarbeit mit
Russland ist angesichts der völkerrechts-
widrigen Besetzungen der Krim und Ost-
ukraine, des MH-17-Abschusses, der Cy-
berangriffe, der Einflussnahmen auf die
Wahlen etwa in Frankreich, den Vereinig-
te Staaten und anderen aktuell nicht ge-
boten. Wenn aus volkswirtschaftlichen
Gründen die Sanktionen aufgegeben wer-
den, finanzieren wir unsere eigene Desta-
bilisierung. Putin steuert gezielt die demo-
kratiefeindlichen Aktivitäten in Europa.
Es stellt sich die Frage, ob nicht die Putin-

Jahre zugleich auch „verlorene Jahre“ für
Russland sind. Es ist ein Jammer: Im
Grunde genommen gehören Russland
und Europa zusammen; im Interesse von
Europa, aber auch von Russland, das al-
lein China in direkter Grenznachbar-
schaft und den Vereinigten Staaten nicht
auf Augenhöhe begegnen kann. Die größ-
te Sorge ist aber, das Russland eines Tages
enden wird wie die Sowjetunion, weil die
Oligarchen nicht mehr in der Lage sind
oder auch nicht sein wollen, die Staatsbe-
triebe mit Militär und Geheimdiensten zu
finanzieren.
GERNOT HILGE, MÜNSTER

Zu den Berichten über die „Friday for Fu-
ture“-Demonstrationen: Ich bin Jahrgang
1947 und musste mir bei einer „Friday for
Future“-Demonstration anhören, dass wir
ältere Generation das Leben und die Zu-
kunft der Jugend ruinieren. Dem ist abso-
lut nicht so, denn in meiner Jugend wurde
nachhaltig gelebt. Strümpfe und Socken
wurden gestopft. An Pullover wurden
Bündchen gestrickt, wenn sie zu klein wur-
den. Zur Schule und zum Einkauf musste
man mehrere Kilometer gehen. Man fuhr
zum Einkauf nicht mit dem Auto, sondern
erhielt alles Lebenswichtige um die Ecke
im Kramerladen. Die Einkäufe wurden
mit einem Einkaufsnetz nach Hause ge-

bracht und nicht mit der Plastiktüte. Wenn
Kleidung nicht mehr brauchbar war, wur-
den alle noch verwertbaren Dinge wie
Knöpfe und Reißverschluss abgetrennt,
der Rest zum Putzen genutzt. Geschenkpa-
pier wurde vorsichtig geöffnet, um es wie-
derverwenden zu können. Fußball spiel-
ten wir auf einer Wiese und nicht auf
Kunstrasenplätzen aus Plastik. Ferien wa-
ren für uns die Fahrt mit dem Rad zu Opa
und Oma und nicht der teure Flug in Ur-
laubsgegenden. Es war wunderschön.
Wenn die junge Generation einmal ge-
nauso nachhaltig lebt wie meine Generati-
on, dann darf sie gerne streiken.
JOSEF BODMEIER, EBERSBERG

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Keine Selbstdestabilisierung


„Warum ticken die Ossis so?“, fragt Uwe
Schwabe in der F.A.Z. vom 21. August.
Vor ihm auch andere Autoren. Niemand
fragt: „Wie ticken die Wessis?“ Dazu zwei
Anmerkungen: Vor kurzem wurde noch
groß „70 Jahre Bundesrepublik Deutsch-
land“ gefeiert. Wie das? Tatsächlich ist
nur der Name „Bundesrepublik Deutsch-
land“ 70 Jahre alt – erfunden und 1990
durchgedrückt von den Wessis. 70 Jahre
alt wäre die „Bundesrepublik West-
deutschland“, wenn der deutsche Teil-
staat 1949 so benannt worden wäre. Seit
29 Jahren jedoch existiert ein neuer deut-
scher Staat – leider unter dem alten Na-

men „Bundesrepublik Deutschland“.
Zum anderen haben die Westdeut-
schen bis heute nicht realisiert, dass nach
der „glücklichsten Revolution aller Deut-
schen“ (Ines Geipel in der F.A.Z. vom 12.
August) 1990 ein neues Deutschland ent-
standen ist. Tatsächlich hat 1990 ein neu-
es Deutschland Europas Bühne betreten.
Hätte es auch einen neuen Namen erhal-
ten, hätten die Wessis gemerkt, dass sie
1990 Bürger eines neuen deutschen Staa-
tes geworden sind – Bürger mit neuen
Pflichten! Die 70-Jahr-Feier stünde aller-
dings erst 2060 an.
MANFRED BUNTE, ERKRATH

Zu „Schwere Ansehensverluste für Unter-
nehmer und Politiker. Umfrage: Das Ver-
trauen in Staat und Wirtschaft sinkt“
(F.A.Z. vom 21. August): Laut einer aktuel-
len Forsa-Umfrage empfindet jeder vierte
Wahlberechtigte die Politiker, ihre großspu-
rigen Rituale, die Fragwürdigkeit ihrer Leis-
tungen und das „Phrasenhafte ihres Auftre-
tens“ als das drängendste Problem der Ge-
genwart. Könnte das „phrasenhafte Auftre-
ten“ vielleicht mit der unter Politikern übli-
chen Gendersprache zusammenhängen?
Wenn eine Annegret Kramp-Karren-
bauer in einem Interview sagt, die „Bran-
denburgerinnen und Brandenburger“ hät-
ten eine wichtige Wahl vor sich, kann man
nur den Kopf schütteln: So spricht kein
normaler Mensch. „Bürgerinnen und Bür-
ger“, „Wählerinnen und Wähler“, „Nutze-
rinnen und Nutzer“, „Frankfurterinnen
und Frankfurter“: Das reflexhafte Verdop-
peln in allen Äußerungen von Politikern
von Linke bis CDU – nur Teile der CSU

und die AfD entziehen sich dem Verdoppe-
lungszwang – schafft sofort Distanz. Man
erkennt die Absicht und ist verstimmt.
Hier wird nicht zum Bürger gesprochen,
sondern zu den Bewahrern der politi-
schen Sprachkorrektheit: Seht her, ich hal-
te mich an eure Gebote. Das ist nicht die
Sprache des Volkes, sondern einer Kaste.
DR. BURKHARD BASTUCK, FRANKFURT/MAIN

Im Leserbrief „Mut und Menschlichkeit
in der NS-Zeit“ von Professor Dr. Fritz
Rubin-Bittmann (F.A.Z. vom 24. August)
hat sich durch ein redaktionelles Verse-
hen ein Fehler eingeschlichen: Richtig
ist, dass vom Gelände des Aspanger
Bahnhofs nicht nur sechstausend, son-
dern mehr als sechzigtausend österrei-
chische Juden in die Konzentrationslager
deportiert wurden.

Zu „Trump droht abermals mit Truppen-
abzug“ von Johannes Leithäuser (F.A.Z.
vom 10. August): Einst waren es russi-
sche und auch gerade amerikanische
Streitkräfte, die Deutschland von der Na-
ziterror-Herrschaft befreiten. Und auch
heute sollten wir dieses niemals verges-
sen. Während die Siegermächte nach
dem Zweiten Weltkrieg jeweils ihr eige-
nes Militär stetig erneuerten und aufrüste-
ten, entwickelte sich bei uns in Deutsch-
land eine anfangs moderne und technisch
hochwertige Bundeswehr.
Und jetzt? Bedenken wir genau alle Ri-
siken und Gefahren, die bei einem Trup-
penabzug der Vereinigten Staaten in unse-
rem Lande entstehen würden. Noch ist
Zeit für eine objektive und realistische Be-
standsaufnahme!


ERWIN CHUDASKA, LEER/NIEDERSACHSEN


Zum Artikel „Machtkampf um den Regen-
wald“ (F.A.Z. vom 20. August): Brasilien
sollte an seine völkerrechtlichen Ver-
pflichtungen zum nachhaltigen Umgang
mit dem Regenwald erinnert werden. In
Artikel 4 Paragraph 1 (d) der Klimarah-
menkonvention von 1992 steht: „All par-
ties shall promote sustainable manage-
ment... of sinks and reservoirs of all
greenhouse gases including forests.“ Arti-
kel 5 des Pariser Klimavertrags von 2015
ergänzt: „Parties should take action to
conserve and enhance, as appropriate,
sinks and reservoirs of greenhouse gases

... including forests.“ Die derzeit im
Amazonasgebiet stattfindende großflächi-
ge Vernichtung des Regenwaldes spricht
diesen von Brasilien unterschriebenen Zu-
sagen Hohn.
DR. WILL FRANK, BONN


Als das Leben noch nachhaltig war


Die Nachricht in der F.A.Z. vom 21. Au-
gust auf Seite 1 „Polen beharrt auf Repa-
rationszahlungen“ hat bei mir heftiges
Kopfschütteln verursacht. Reicht es Po-
len nicht, dass ihm fast ein Drittel des
deutschen Staatsgebietes („In den Gren-
zen von 1937“) im Rahmen der Zwei-
plus-vier-Verträge vom September 1990
überschrieben wurde? Noch in meinem
Dierke-Schulatlas von 1957 lesen wir un-
ter der Überschrift „Deutschland, Politi-
sche Gliederung“, dass Niederschlesien,
Oberschlesien und Westpreußen unter
polnischer Verwaltung stehen wie Ost-
preußen mit Königsberg unter sowjeti-
scher Verwaltung.
Hier geht es um Werte, die sich nur in
Billionen Euro ausdrücken lassen: ein rie-
siges Gebiet mit voller Infrastruktur, Stra-
ßen, Eisenbahnstrecken, öffentliche Bau-
ten in Städten und Dörfern, Universitä-
ten, Schlösser, Fabriken, Kohlengruben,
Kirchen und Klöster mit all ihren Kunst-


schätzen, nicht zu vergessen die zahllo-
sen Privathäuser mit ihrem Inventar. Als
ich als Kind mit meiner Mutter und mei-
nen Geschwistern 1946 unser Haus ver-
lassen musste, durften wir gerade so viel
mitnehmen, wie wir am Leibe tragen
konnten. Unsere Betten waren noch
warm, als die polnische Verwaltung die
neuen Bewohner einwies in das volleinge-
richtete Haus samt schön angelegtem
Garten. In einen Viehwagen wurden wir


  • ahnungslos, wohin es geht – zusammen-
    mit anderen gestopft.
    Kurz und gut: Inzwischen sind in
    Deutschland drei Generationen herange-
    wachsen, die mit NS-Deutschland wirk-
    lich nichts mehr am Hut haben. Wenn Po-
    len noch immer auf Reparationen be-
    harrt, kann ich das nur als eine Forde-
    rung nach dem höchst amoralischen Prin-
    zip der Sippenhaft bezeichnen.
    DR. BALDUR GABRIEL, FRANKFURT AM MAIN


Zu „Ein Traum von Strafprozess?“ (F.A.Z.
vom 26. August): Schuld – als zentraler
Ansatz des staatlichen Strafanspruchs –
ist die persönliche Vorwerfbarkeit des
Tuns.Dieser Ausgangspunkt ist im be-
absichtigten „Unternehmensstrafrecht“
nicht umsetzbar. Unternehmen sind in Tei-
len juristische Fiktionen, die ohne mensch-
liche Handlung, nämlich die Handlung ih-
rer organschaftlichen Vertreter, nicht real
wirken können.Ist die strafrechtliche Ver-
antwortung des Unternehmens – neben


der persönlichen Verantwortung eines
GmbH-Geschäftsführers – ein Verstoß ge-
gen das Verbot der Doppelbestrafung, des
nebis in idem? Nein? Dann liegt ein Fall
der gesetzgeberischen Anordnung von Sip-
penhaft vor. Eine Koalition, deren politi-
sche Bindungswirkung vollkommen zu
Recht zunehmend erodiert, sollte von ei-
ner derartigen Koordinatenverschiebung
unseres Rechtssystems tunlichst die Fin-
ger lassen.
FRIEDRICH W. SIEMERS, HANNOVER

Zu „Dass dir Flügel herauswachsen müss-
ten“ (F.A.Z. vom 26. August): Es ist ver-
dienstvoll und richtig, dass die F.A.Z. in
ihrer Theaterserie „Spielplan-Ände-
rung“ auf Marieluise Fleißer aus Ingol-
stadt verweist, die „endlich wieder auf
die Bühnen der Republik“ gehört, wie
Rose-Maria Gropp zu Recht formuliert,
von ihr bezogen auf das kritische Volks-
stück „Der starke Stamm“. Dieses Stück
wurde in der Tat lange von den großen
Theatern vernachlässigt, vielleicht auch
aus Respekt vor der bayerisch gefärbten
Wucht dieser Sprache, die man sich erst
einmal zutrauen muss, als Regisseur und
auch als Schauspieler. Immerhin gab es
2001 in Regensburg unter Michael Bleizif-
fer eine interessante Aufführung, und
das Residenztheater in München plant
für die kommende Spielzeit eine Inszenie-
rung (Premiere am 23. Januar 2020, un-
ter der Regie von Julia Hölscher). Den-
noch: Ich schließe mich dem Appell Ihrer
Autorin aus voller Überzeugung an! Die
Fleißer gehört in der Tat auf die Bühnen
der Republik, und das geschah zuletzt
mit ihrem fulminanten Erstlingswerk „Fe-
gefeuer in Ingolstadt“ (geschrieben 1924,
uraufgeführt 1926), aufgeführt in Zürich
2010 (unter Barbara Frey) und an den
Kammerspielen München 2013 (unter Su-
sanne Kennedy), beide Male mit großem
Erfolg.
Das Stadttheater Ingolstadt plant für
die nächste Zeit eine Aufführung ihres
„Skandalstücks“ (1929 unter der Mitwir-
kung von Bert Brecht in Berlin) „Pionie-
re in Ingolstadt“ in der Intendanz von
Knut Weber und unter der Regie von
Claus Peymann. Zu entdecken bleibt
aber für die Bühnen in Deutschland nach
wie vor Fleißers Stück „Der Tiefsee-
fisch“, geschrieben 1929/1930 und zuerst

gedruckt als „Schauspiel in vier Akten.
Vorläufige Fassung“ 1973 (GW, Bd. 1).
Lange hat die Autorin mit diesem Stück
gerungen, auch mit der Erlaubnis zum
Abdruck in den GW, und auch mit dem
Stoff, der ihre Abwendung vom Brecht-
kreis und die Beziehung mit dem exzen-
trischen Draws-Tychsen thematisiert,
aber ebenfalls als Parabelstück gelesen
werden sollte. Eigentlich unverständlich,
dass dieses Werk nicht auf die Bühnen
kommt, zumal in den Zeiten von „#Me-
Too-Debatten“ und auch der teilweisen
Neubewertung von Bert Brecht (F.A.Z.
vom 17. Januar und 22. März). Hier wür-
de man sich durchaus mehr Mut bei den
Theatern und Regisseuren wünschen.
Marieluise Fleißer ist aber nicht nur
als Dramatikerin von den Theaterbüh-
nen zu entdecken, auch als Prosaautorin
ist sie von großer Bedeutung für die Ge-
genwartsliteratur, und nicht zuletzt Gün-
ther Rühle als Herausgeber der Gesam-
melten Werke hat dies, auch in der
F.A.Z., immer wieder betont: Drei Bände
der GW erschienen noch zu Lebzeiten
der Fleißer im Jahre 1973; postum dann
der Band „Aus dem Nachlaß“ (1989) und
zuletzt, 2001, „Fleißers Briefwechsel“.
Eine kleine Korrektur sei mir zu dem
exzellenten Artikel von Rose-Maria
Gropp erlaubt: Die „Gesammelten Wer-
ke“ der Fleißer erschienen natürlich
nicht im Hanser Verlag, sondern im Suhr-
kamp Verlag. Um ihre Bedeutung auch
postum zu würdigen, vergibt die Stadt In-
golstadt seit 1981 den nach ihr be-
nannten „Marieluise-Fleißer-Preis“, der
in diesem Jahr am 24. November an die
Schriftstellerin Iris Wolff verliehen wird
und mit 10 000 Euro dotiert ist.
ANDREAS BETZ, ERSTER VORSITZENDER DER MA-
RIELUISE-FLEISSER-GESELLSCHAFT, INGOLSTADT

Korrektur


Warnung vor Abzug Von Brasilien zugesagt


Das neue Deutschland


Man erkennt die Absicht und ist verstimmt


Amoralische Reparationsforderungen


Koordinatenverschiebung des Rechtssystems


Marieluise Fleißer aus Ingolstadt

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