Süddeutsche Zeitung - 30.08.2019

(Romina) #1

Vladimir Jurowski wurde in eine jüdisch-
russische Musikerdynastie hinein gebo-
ren, er ist mit 18 nach Deutschland gekom-
men und mittlerweile zu einem internatio-
nal gefeierten Dirigenten aufgestiegen.
Derzeit ist der 47-Jährige noch Chefdiri-
gent des Berliner Rundfunk-Sinfonieor-
chesters. Er ist aber auch der designierte
Nachfolger von Kirill Petrenko als General-
musikdirektor der Bayerischen Staats-
oper, im Herbst 2021 wird er seinen Dienst
antreten. Am Sonntag eröffnet er die Berli-
ner Konzertsaison beim Musikfest mit
Strauss’ „Frau ohne Schatten“.


SZ: Herr Jurowski, Sie kommen in zwei
Jahren nach München. Der designierte In-
tendant Serge Dorny und Sie haben be-
reits Ungewöhnliches für die Oper ange-
kündigt.
Vladimir Jurowski: Es wird eine Mischung
aus noch nicht Gespieltem und Wohlbe-
kanntem sein. Ich wende mich zwar mit
der Zeit dem klassischen Repertoire zu,
aber zuerst möchte mich vor allem für die
neuen oder weniger bekannten Stücke ein-
setzen. Serge Dorny und ich denken da ab-
solut gleich und wir entscheiden zusam-
men über das Programm.


Können Sie schon etwas verraten?
Nur so viel: Ich erwarte die Zeit mit Vorfreu-
de. In der kommenden Saison komme ich
noch mal für ein Akademiekonzert als Gast
nach München. Wir spielen Mozart und
Bruckners Dritte.


Wie sehen Sie das Münchner Publikum?
Es ist weitaus weniger konservativ, als ihm
nachgesagt wird. Ich habe es sehr offen ge-
genüber Neuem erlebt – wenn es gut ist.
Mir ist noch gut in Erinnerung geblieben,
wie positiv Prokofjews selten aufgeführte
Oper „Der feurige Engel“ aufgenommen
wurde. Natürlich müssen die Münchner
erst einmal Vertrauen zu mir aufbauen.

Ihr Vorgänger Kirill Petrenko gilt als men-
schenscheu. Sie dagegen haben den Ruf
eines sehr gesprächigen Dirigenten.

Ich liebe es, mich mit Menschen auszutau-
schen. Das mag aus meinem Mund etwas
seltsam klingen. In meinem Beruf werden
viele zu Misanthropen. Erstens begegnet
man als Dirigent täglich Hunderten von
Menschen. Danach möchte man sich lieber
zurückziehen. Zweitens übt man als Diri-
gent ständig die Rolle des Bestimmers aus,
und irgendwann vereinsamt man daran.
Das hat mich früher oft abgeschreckt.

Haben Sie sich denn mittlerweile an diese
einsame Rolle gewöhnt?

Na ja, mir gefällt es, wenn Musik genauso
erklingt, wie ich sie mir vorstelle.

Sie mögen also die Kontrolle?
Ja, ich kann den Musikern schon auf die
Nerven gehen, wenn es mir um die Ausar-
beitung konkreter Passagen geht. Aber ide-
alerweise schwebt mir natürlich eine Part-
nerschaft mit dem Orchester vor.

Ihr Vater und Ihr Urgroßvater waren Diri-
genten, Ihr Großvater Komponist, Ihr Bru-
der ist ebenfalls Dirigent. Wie wäre Ihr Le-
benverlaufen, wenn Sie in eine unmusika-
lische Familie reingeboren wären?
Wahrscheinlich wäre ich kein Musiker ge-
worden. Ich kann nicht sagen, dass ich im-
mer davon geträumt habe, Dirigent zu wer-
den. Es gab auch mal eine Zeit, in der ich ge-
zwungen werden musste, Klavier zu üben.
Ich wollte lieber draußen spielen oder le-
sen. Und mit 14 entdeckte ich die Rockmu-
sik für mich. Das legendäre Album „The
Wall“ vonPink Floydwar ein absolut scho-
ckierendes und grandioses Hörerlebnis.
OderQueen! Später hörte ich auch russi-
sche Rock-Musik von Bands wieDDToder
Aquarium.

Ein Rockstar ist aus Ihnen aber nicht ge-
worden.
Der Geist des Rock lebt in mir weiter. Ich
verwirkliche meinen inneren Rocker eben
etwas anders.
Sehr anders.
Als mir endlich dämmerte, was ich werden

will, war ich mitten in der Pubertät. Ich ha-
be mich damals Hals über Kopf in die Klän-
ge von Mahlers Symphonien verliebt. An-
fangs ging es mir vor allem um die Musik,
die mir am Herzen lag. Ich wollte sie mit
meinen eigenen Händen reproduzieren.

Sie sind im Jahr 1990 mit Ihrer Familie
aus Moskau nach Ostdeutschland gekom-
men, da waren Sie 18 Jahre alt. Wie haben
Sie die erste Zeit überstanden?
Das war wie ein doppelter Abschied von
der Kindheit. Da halfen nur Willensstärke,
ein heller Kopf und der Wusch, dazublei-

ben. Ich wollte um jeden Preis den Wehr-
dienst in der russischen Armee vermeiden.
Ein Zurück kam nicht infrage.

Mittlerweile fahren Sie als Leiter des Svet-
lanov-Sinfonieorchesters wieder regelmä-
ßig nach Russland.
Dank der Reisen kann ich unnötige Anfälle
von Nostalgie abschirmen. Ich habe das
echte, heutige Russland kennengelernt.
Das Russland, das ich noch vermissen
könnte, existiert nur noch in meinem
Kopf. Die guten Seiten jedenfalls.
Und die schlechten?

Nun, die Sowjetunion lebt auf eine Art wei-
ter fort.

Sie machen in Russland keinen Hehl aus
Ihrer liberalen Einstellung.
Dafür muss ich nicht zur Demo gehen, ich
sage oft genug in meinen Konzerteinfüh-
rungen, was ich denke. Die patriotisch ge-
sinnte Presse verschonte mich zwar nicht,
als ich mich über die Annexion der Krim,
gegen den ukrainischen Krieg oder für die
Rechte von Homosexuellen äußerte, aber
das hatte bisher keine Folgen. Meine Fami-
lie und ich machen uns wegen des Rechts-
rucks in Deutschland große Sorgen. Falls
nötig, werde ich mich auch hier mit einem
Appell ans Publikum wenden. Heute darf
man nicht unpolitisch bleiben, denn es
geht um unsere gemeinsame Zukunft. Mu-
sik strebt nach einem Ideal der Harmonie,
und Ideale muss man verteidigen.

Aber gerade in der Klassik gibt es doch die
größten Schrecken. Die Libretti der Oper
drehen sich oft um Krieg, Hass oder Mord.
Ich spreche über etwas anderes. Über Mu-
sik, die dem Bösen dient. Schostakowitsch
zum Beispiel ist seinen Überzeugungen
treu geblieben. Er hat Prokofjew für seine
Kantate „Aleksander Nevski“ stark kriti-
siert, er habe darin ethische Normen ver-
letzt und mit der Musik das Böse verherr-
licht. Ich habe deshalb irgendwann aufge-
hört, dieses Werk zu spielen.

interview: ekaterina kel

Die Boykott-Kampagne ist gerade einmal
zweiJahre alt – und von durchschlagen-
dem Erfolg. Aus einem glänzenden Namen
in der amerikanischen Kunst- und Kultur-
szene ist ein No-Name geworden, den man
besser nicht mehr in den Mund nimmt,
schon gar nicht auf die Wände von Ausstel-
lungsräumen projiziert oder an die Fronti-
spize von Museen meißelt. „#ShameonSa-
ckler“ hat erreicht, dass der Louvre seine
Sammlung orientalischer Antiken nicht
mehr nach der US-Milliardärsfamilie Sack-
ler nennt, dass die National Portrait
Gallery in London dem Familienfonds 1,
Millionen Dollar an Spenden zurückgibt,
die für die Renovierung des Museums ein-
geplant waren, und dass das Guggenheim
Museum in New York kein Geld mehr von
der Familie akzeptiert. „Blutgeld“, wie die
Initiatoren der Kampagne, die New Yorker
Fotografin Nan Goldin, behauptet.
Der Hintergrund des Kulturboykotts ist
in der Tat eine Heimsuchung von beklem-
menden Ausmaßen. In den vergangenen
zwei Jahrzehnten dürften mehr als
400000 Amerikaner an den Folgen von
Opioid-Missbrauch gestorben, Schmerz-
mittel, die in Amerika relativ leicht zugäng-
lich sind. Einer der wichtigsten Hersteller
ist die Firma Perdue Pharma im Besitz der
weit verzweigten Familie Sackler. Ihr wird
vorgeworfen, das Schmerzmittel Oxycon-
tin nicht nur vertrieben, sondern den Kon-
sum mit einer aggressiven Marketingkam-
pagne gefördert zu haben – wohl wissend,
dass die Einnahme der Tabletten bereits
nach kurzer Zeit süchtig machen kann.

Die Boykottinitiative dürfte ihren Anteil
daran haben, dass die Milliardärsfamilie
Anfang der Woche nach jahrelangem Leug-
nen und Hinhalten einen Vergleich zur Bei-
legung von mehr als 2000 Klagen wegen
des Schmerzmittelmissbrauchs vorge-
schlagen hat. Größenordnung: elf, zwölf
Milliarden Dollar. Auch wenn der Boykott
mit dem juristischen Streit um die Verant-
wortung von Perdue Pharma für den Miss-
brauch direkt nichts zu tun hat, so dürfte
er doch dazu beigetragen haben, die Fami-
lie mürbe zu machen. Denn Goldins Kam-
pagne trifft die Sacklers dort, wo sie sich
vermutlich am wenigsten angreifbar wähn-
ten: ihrem großzügigem Mäzenatentum.
Die berühmtesten Museen der Welt ste-
hen auf der Empfängerliste ihrer Spenden.
Neben dem Guggenheim Museum in New
York auch das Metropolitan Museum und
das American Museum of Natural History.
Die Museen der Smithsonian Institution
an der Mall in Washington. Der erwähnte
Louvre in Paris. In Großbritannien sind es
nicht weniger als 17 Kultureinrichtungen,
darunter die Tate Gallery, das British Muse-
um und die Royal Opera. Das Jüdische Mu-
seum in Berlin hat die „Sackler Treppe“
nach der Familie benannt. Inzwischen hat
der Sackler Trust erst einmal seine Spen-
dentätigkeit eingestellt – weil niemand die
Millionen mehr haben will.
Goldins Kampagne stellt die großen In-
stitutionen der internationalen Kultursze-
ne vor eine schlechte Alternative: Geld weg
oder guter Ruf dahin. Die meisten entschei-
den sich wie das Jüdische Museum in Ber-
lin für einen Mittelweg. Der Name des ed-
len Spenders wird nicht entfernt, neues
Geld aber nicht angenommen, weil die Me-
thoden vielleicht nicht ganz so edel waren,
mit denen der Reichtum angehäuft wurde.
Goldin richtet ihre Kampagne nun ver-
stärkt auf die Politik, der sie vorwirft, zu
wenig gegen die Sucht-Epidemie zu tun.
Am Mittwoch wurde die 65-Jährige bei ei-
ner Protestaktion vor dem Büro des New
Yorker Gouverneurs Andrew Cuomo festge-
nommen. reymer klüver

„‚The Wall‘ von ‚Pink Floyd‘
warein absolut
schockierendes und
grandioses Hörerlebnis.“

von sonja zekri

W


as die Fragestellungen des Berli-
ner Islamwissenschaftlers Noël
van den Heuvel von denen seiner
älteren Kollegen unterscheidet, ist nicht al-
lein die Tatsache, dass man interessante
arabische Sprachträger wie libanesische
Dragqueens inzwischen auf Instagram fin-
det, sondern auch eine Problem wie dieses:
Soll man zu Tagungen künftig mit dem
Schiff fahren? Müssten die Forscher im Sin-
ne einer klimagerechten Wissenschaft
statt zu fliegen nicht besser forschend und
debattierend über das Mittelmeer gon-
deln? Sollten sie, noch radikaler, sogar nur
noch Skype-Konferenzen abhalten?
Dann wiederum gehen Kreuzfahrten,
selbst akademische, eigentlich gar nicht
mehr. Und Skype-Schaltungen können
sehr zäh werden, wenn, wie in manchen
Ländern, das Übertragungstempo bei Kara-
wanen-Geschwindigkeit liegt. Van den
Heuvels freundliches Gesicht schaut jetzt
ernsthaft bekümmert. Viele islamische
Länder leiden unter der Ausbreitung von
Wüsten und fehlenden Niederschlägen,
das weiß er. „Wir in Europa können mehr
fliegen als die Menschen dort. Aber wir spü-
ren die Folgen des Klimawandels weniger.“


Und weil er als Forscher zugleich den
Anspruch hat, seinen Gegenstand selbst in
Augenschein zu nehmen und nicht nur dar-
über zu lesen, steht er vor dem Dilemma
seiner Generation: Wie soll man alles rich-
tig machen, wenn das Leben unentwegt
mit seinen Widersprüchen dazwischen-
funkt?
Noël van den Heuvel, 1992 in Bremen ge-
boren, besitzt die deutsche und niederlän-
dische Staatsangehörigkeit und arbeitet
im Leibniz-Zentrum Moderner Orient
(ZMO) im Berliner Vorort Nikolassee. Es ist
ein Viertel erstarrter Gediegenheit unter al-
tem Baumbestand, an manchen Klingel-
schildern stehen nur Anfangsbuchstaben,
als verstünde sich der Rest von selbst.
Das ZMO logiert im Mittelhof, den der
Architekt Hermann Muthesius vor etwa
hundert Jahren im englischen Landhaus-
stil entworfen und dabei mit Erkern, Win-
tergarten und Giebeln versehen hatte,
über dem Eingang allerdings auch mit
linksdrehenden Swastiken und Skulptu-
ren, die wohl Köpfe von Afrikanern darstel-
len sollen. Bauherr war damals der Koloni-
alhändler Wilhelm Mertens, der unter an-
derem in Britisch-Nigeria und Niederlän-
disch-Indien vertreten war. Damit ist der
Bogen ins außereuropäische Ausland ge-
schlagen, mithin in die islamische Welt.
Aber was heißt überhaupt islamische
Welt? In Europa leben auch Muslime, auf


der ganzen Welt leben sie, 1,7 Milliarden.
„Absurd viele Menschen“, sagt van den
Heuvel, „absurd viele Sprachen.“
Als Forschungsgegenstand ist diese
Kontingenz ein harter Brocken. Früher
konnte sich ein Islamwissenschaftler ein
Leben lang in die Details des hanafitischen
Erbrechts versenken. Der Text war alles,
zumal der heilige. Das gilt längst nicht
mehr uneingeschränkt, jedenfalls gilt es
nicht für Noël van den Heuvel. Dass sich
aus den heiligen Texten ableiten ließe, wie
die Gläubigen denken, wie eine Region poli-
tisch, kulturell, sozial geordnet ist, oder
auch nur vor ein paar Hundert Jahren ge-
ordnet war, hält er für überholt. Und dass
islamische Konservative allerhand An-
strengungen unternehmen, um die gegen-
wärtige Welt den historischen Schriften an-
zupassen, bestätigt ihn darin nur. „Selbst
wenn es Texte gibt, die ein Narrativ vorge-
ben, ist die Realität immer etwas ganz an-
deres“, sagt er, „ambivalenter, fließender.“
Und explosiver. Wenn man bedenkt,
dass ein Eugeniker wie Thilo Sarrazin mit
seinen Islam-Panschereien Millionen auf-
hetzt, ein seriöser Forscher wie der Franzo-
se Gilles Kepel wiederum für seine Äuße-
rungen zum Terrorismus Polizeischutz be-
kam, lässt sich die Beschäftigung mit dem
Islam mit einigem Recht als Risikofor-
schung betrachten. Wer über den Islam
redet, spricht über die schmerzhaftesten
Themen der Gegenwart, über die Verletz-
lichkeit moderner Gesellschaften, die Illu-
sion westlicher Toleranz, die Veränderbar-
keit der Welt.
Gerade die gesellschaftspolitische
Dringlichkeit hat van den Heuvel ja über-
haupt erst zu seinem Fach gebracht. So wie
die Perestroika der Slawistik einst Scharen
neuer Studenten bescherte und der 11. Sep-
tember Islam-Interessierte in die Orienta-
listik-Seminare brachte, gab für van den
Heuvel eine dramatische Nachrichtenlage
den Ausschlag: der Arabische Frühling.
Nach dem Abitur hatte er für den Euro-
päischen Freiwilligendienst in Moskau ge-
arbeitet und dort Russisch gelernt. Spra-
chen fallen ihm leicht, und damals reizte
ihn vieles, Slawistik, Sinologie, Amerika-
nistik, aber am Ende gaben die Aufstände
in Tunis, Kairo, Tripolis den Ausschlag, der
Wunsch, etwas zu begreifen, das „so sehr
groß“ ist. Hätten die Menschen in Hong-
kong damals schon rebelliert, vielleicht wä-
re er heute Sinologe.
Sechs Monate lang lernte er Arabisch in
Jordanien, auch Hocharabisch, arbeitete in
Ramallah für eine palästinensische Ju-
gendorganisation, schrieb seine Bachelor-
arbeit über die arabische Rezeption von
Edward Saids „Orientalismus“, dolmetsch-
te für Flüchtlinge in einer psychotherapeu-
tischen Praxis in Berlin und wurde schließ-
lich Assistent der ZMO-Direktorin Ulrike
Freitag.
Das Thema für seine Masterarbeit steht
auch schon, Public Space in Saudi-Arabi-
en. Ein Semester lang will er in Dschidda
leben und arbeiten, der offensten Stadt des
Landes. Van den Heuvel hat historische
Bilder von Kasino-Werbung in Dschidda
gesehen, ehe das Land nach dem Angriff
auf die Große Moschee in den Siebzigern
erstarrte. Früher ging vieles, sagt er. Seit
sehr kurzer Zeit nun werden im
Wochentakt neue Acts angekündigt, die
Backstreet Boys, Nicki Minaj, es gibt – jahr-
zehntelang undenkbar – Clubs, Halal-Dis-
cos genannt. Van den Heuvel will sehen,
was heute geht.
Er kennt alle Vorbehalte gegen Saudi-
Arabien, aber er hat gelernt, dass vieles aus
der Nähe anders aussieht als erwartet.
Dass Religion beispielsweise nicht unbe-
dingt ein Gegensatz zu freiem Denken, zu

freier Forschung ist. In Palästina und Jorda-
nien traf er fromme, aber geistig unabhän-
gige Menschen, hingegen leidenschaft-
liche Atheisten, deren fanatische Islam-
kritik an AfD-Reden erinnerte. Noël van
den Heuvel begriff: Ein Argument, das in ei-
nem bestimmten Zusammenhang fort-
schrittlich und erhellend klingt, kann in ei-
ner anderen Kultur, in einem anderen Kon-
text rückständig und aggressiv wirken.
Dass die Muslime in Deutschland am
besten ihren Glauben überwinden sollten,
hält er deshalb nur für die aktuelle Spielart
einer Repression im Namen der Aufklä-
rung: „Historisch hieß es oft, wir müssen zi-
vilisieren, wir müssen aufklären. Jetzt ist
die Rede davon, dass wir die Muslime von
ihrer Religion wegbringen müssen, damit
sie Bürger dieses Landes werden können.“
Und überhaupt: Welche Religion? Welcher

Islam? 1,7 Milliarden Muslime bedeuten
1,7 Milliarden Möglichkeiten zu glauben.
Das ist bei den Christen nicht anders.
Solchen Zwischentönen würde van den
Heuvel gern mehr Gehör verschaffen, dar-
in sieht er eine Verantwortung als Wissen-
schaftler. Islamwissenschaftler sollten
sich einmischen, findet er, in Zeitungen
schreiben, in Talkshows auftreten, in sozia-
len Medien vielleicht sogar ein eigenes Por-
tal schaffen. Welchen Wert hat noch das re-
levanteste Wissen, wenn es die Öffentlich-
keit nicht erreicht? Andererseits sieht er
sich nicht als denjenigen, der diese Kom-
munikation leisten kann. Der Publikations-
druck für Nachwuchswissenschaftler ist
gewaltig, die Karriere will vorangebracht
werden, er steht ja erst am Anfang. Ginge
es nach ihm, könnte sich das Fach jeden-
falls noch stärker öffnen, noch mehr wan-

deln. Schon jetzt berührt es Ethnologie, An-
thropologie, Politikwissenschaft, dazu So-
ziologie, Literaturwissenschaft, Medizinge-
schichte. Aber nicht alle Institute verfol-
gen diesen Ansatz so konsequent wie das
interdisziplinäre, auch nach Asien und
Subsahara-Afrika ausgreifende Zentrum
Moderner Orient. Oft bedeute Islamwissen-
schaft immer noch Nahost-Studien, erst in
jüngster Zeit gebe es Seminare zu aktuel-
len Begriffen wie etwa „Islamismus“, sagt
van den Heuvel.
Und das hanafitische Erbrecht? Die Hof-
dichtung im abbasidischen Bagdad? Was
wird mit solchen Themen, wenn die Islam-
wissenschaft so richtig tagespolitisch
wird? Sind alles ehren- und erforschens-
werte Fragen, beruhigt Noël van den Heu-
vel. Nur ist in diesen aufgeladenen Zeiten
anderes gerade dringender.

Eine weitere Folge der Inititiative:
Der Vergleich, zu dem sich die
Milliardärsfamilie bereit erklärte

„In meinem Beruf werden viele zu Misanthropen“


Der Dirigentund zukünftige Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper Vladimir Jurowski über Rockmusik, Russland und Kontrolle


Kein „Blutgeld“


von den Sacklers


Nan Goldins Boykott-Aufruf setzt
Museen weltweit unter Druck

Was ist eine


Halal-Disco?


Der Islamwissenschaftler Noël van den Heuvel


betreibt eine Art von Risikoforschung


Was tun junge Künstler oder
Wissenschaftler, wenn sie noch nicht
etabliert sind? Sie denken über ihre
Kunst oder Wissenschaft nach. In
dieser Serie erzählen sie, wie sie ihre
Zukunft sehen – und die Zukunft ihrer
Disziplin. Diesmal: Noël van den Heu-
vel, Islamwissenschaftler in Berlin.

Der Arabische Frühling hat ihn zu seinem Studienfach gebracht – seine Masterarbeit will er über den öffentlichen Raum
in Saudi-Arabien schreiben: Noël van den Heuvel am Zentrum Moderner Orient in Berlin. FOTO: NATALIE NEOMI ISSER

DEFGH Nr. 200, Freitag, 30. August 2019 (^) FEUILLETON HF2 13
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Vladimir Jurowski will nicht unpolitisch bleiben. „Meine Familie und ich machen
uns wegendes Rechtsrucks in Deutschland große Sorgen.“ FOTO: KAI BIENERT

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