Süddeutsche Zeitung - 30.08.2019

(Romina) #1
von moritz baumstieger

E


ine der wichtigsten Zutaten vieler Re-
gionalkrimis ist das Essen. Einfa-
cher lässt sich Authentizität nicht
vortäuschen als mit Ermittlern, die kulina-
rischen Lokalkolorit in großen Portionen
vertilgen. Leberkäsjunkies verschlingen
deshalb Leberkässemmeln, Küstenkom-
missare pulen „Mordseekrabben“. Selbst
wenn Kriminalfälle aus Syrien serviert wer-
den, scheint das zu gelten: Der in Damas-
kus ermittelnde Kommissar Barudi frisst
sich in Rafik Schamis „Die geheime Missi-
on des Kardinals“ durch Berge von Fala-
feln, Kibbeh und Hummus, als habe der
seit 1971 im Exil lebende Autor seinen gan-
zen Hunger nach Heimat in die Seiten ge-
legt.
Wer ein Faible für die levantinische Kü-
che hat, mag Schamis verbalen Foodporn
je nach Blutzuckerspiegel als Lust oder Fol-
ter empfinden. Um Kommissar Barudi in
Syrien zu verorten, wären die zu Gelagen
ausufernden Dienstbesprechungen aber
nicht zwingend nötig gewesen. Die Orts-
marke Damaskus setzt ein anderes Topos
deutlich genug: Die Gesellschaft, in der
Barudi ermittelt, ist eine, in der 15 konkur-
rierende Geheimdienste das Volk und sich
gegenseitig in Schach halten. Eine, die von
ethnischen und religiösen Gräben durchzo-
gen ist, in der persönliche Loyalitäten
mehr wiegen als Vorschriften. Es ist die
von Despotismus und Paranoia deformier-
te Gesellschaft des Diktators Baschar al-As-
sad, die Schami beschreibt, auch wenn er
dessen Namen nicht einmal nennt.


Als junger Kommissar habe sich Barudi
geschworen, „der Wahrheit oder der Ge-
rechtigkeit dienlich zu sein“, schreibt Scha-
mi. 46 Arbeitsjahre später muss Barudi an-
erkennen: „In einer hochmodernen, aber
unfreien Gesellschaft ist die Wahrheitsfin-
dung aussichtslos.“ Die Figur des unbeirrt
und unbestechlich wühlenden Kommis-
sars, der nicht ruht, bevor er die wirklichen
Hintergründe einer Tat aufgeklärt hat,
mag das abgegriffenste aller Krimikli-
schees sein. Gleichzeitig ist diese Figur
aber eine zutiefst demokratische Instituti-
on: Nur wo Gleichheit, Fakten und die Frei-
heit der Gedanken gelten, ist Platz für Er-
mittler wie Barudi. In Orwellschen Diktatu-
ren wie Syrien nicht. Dort bestimmen ande-
re Faktoren, was die Wahrheit zu sein hat.
Dass er mit seiner Herangehensweise
nur scheitern kann, bekommt Barudi in
„Die geheime Mission des Kardinals“ wie-
der und wieder vor Augen geführt. Es ist
der letzte Fall des Ermittlers vor der Pensio-
nierung, so geraten seine zwischen die Ka-
pitel gestreuten Tagebucheinträge – die
Schami für die Abschweifungen, Reflexio-
nen und Wortgirlanden nutzt, für die er be-
rühmt und berüchtigt ist – zur Lebensbi-
lanz. Besonders glücklich fällt die nicht
aus: Nicht nur auf beruflicher Ebene, auch
auf privater muss der nach dem frühen
Tod seiner Ehefrau zum einsamen Wolf ge-
wordene Ermittler einsehen, dass er sich
zu lange an Illusionen festgehalten hat.
Das ist das zweite große Thema, das
Schami in seinem Damaskuskrimi verhan-
delt, die Macht von Suggestion und Auto-
suggestion. Barudis Fall beginnt mit einer
schaurigen Lieferung, die in der italieni-
schen Botschaft in Damaskus eingeht: In
einem Fass, das Olivenöl enthalten soll, fin-
det der Koch eine seltsam präparierte Lei-
che, der ein Basaltstein an der Stelle des
Herzens eingepflanzt wurde und Silberstü-
cke in die Augenhöhlen. Es ist der Korpus
eines römischen Kardinals, der vom Vati-


kan zu einer undurchsichtigen Mission ent-
sandt wurde. Vielleicht sollte er Verbindun-
gen von Kirchenmännern zu mafiösen
Netzwerken untersuchen, vielleicht aber
auch ein theologisches Gutachten zu ver-
meintlichen Heiligen und Wunderheilern
anfertigen, die Krebs per Handauflegung
besiegen können und denen Olivenöl aus
den Handflächen rinnt. In der Geburtsregi-
on des Christentums geht es in Schamis Ro-
man teils zu wie in Monty Pythons „Leben
des Brian“, falsche Propheten und Scharla-
tane überbieten sich gegenseitig.

Um die Beziehungen zu Italien auf kei-
nen Fall zu belasten – der Fall spielt am Vor-
abend des Arabischen Frühlings im Jahr
2010, als sich die künftigen Bruchlinien im-
mer deutlicher abzeichneten, das Regime
nach außen hin aber noch um Anerken-
nung und Investitionen warb – laden die sy-
rischen Behörden einen Kommissar aus
Rom ein, die Ermittlungen zu begleiten.

Barudi hat zwar die Aufgabe, auf den Gast
aufzupassen (was in Ländern wie Syrien
auch heißt: gut im Auge zu behalten), freun-
det sich aber schnell mit diesem Marco
Mancini an.
In immer vertrauteren Gesprächen ar-
beiten die beiden zum einen die strukturel-
len Parallelen zwischen der Mafia und Dik-
taturen aller Arten heraus. Dabei essen sie
ziemlich viel und gut – und machen sich
als Faktenfanatiker über Volks-, Wunder-
und Aberglauben lustig. Über Christen, die
die Vorhaut Christi als Reliquie verehren,
Scharlatane, die ihren Anhängern noch die
eigenen Fürze als Wundermittel verkau-
fen, über Verteidigungsminister, die sich
mit heiligem Öl salben lassen und Islamis-
ten, für die der ohnehin kryptische Text
des Korans mangels Arabischkenntnissen
für immer ein Rätsel bleiben muss.
Dass er auch den Islamismus für einen
Aberglauben hält, lässt Schami seinen athe-
istischen Kommissar mit christlichem
Wurzeln ganz direkt sagen – denn natür-
lich geraten die beiden Kommissare bei ih-
ren Nachforschungen nicht nur an sabotie-
rende Geheimdienste, bigotte Führer aller
möglichen Glaubensrichtungen und mau-

ernde Diplomaten. Bei Ermittlungen im
Norden des Landes – ironischerweise dort,
wo heute in der Region um Idlib tatsäch-
lich gerade Islamisten die letzte Schlacht
gegen Assads Truppen schlagen – besu-
chen die beiden eher unfreiwillig ein klei-
nes Kalifat, das Schami hier in seinem Vor-
kriegssyrien platziert.

Es wird geführt von jenen Islamisten,
die der Assad-Regierung lange als nützli-
che Idioten gedient haben: Vom Regime in
den Irak eingeschleust zum Kampf gegen
die Besatzungsmacht USA und gleichzeitig
als Feindbild genutzt, das man zu bekämp-
fen vorgibt.
Warum diese Gruppen und später auch
der sogenannte Islamische Staat so star-
ken Zulauf aus dem Westen bekommen
sollten, lässt sich mit Schamis Thesen zum
Transzendentalen erklären – nicht unbe-
dingt originell, aber keinesfalls falsch:
„Aberglaube als Massenerscheinung ge-

deiht am besten in elenden oder übersättig-
ten Gesellschaften“, sagt ein Freund von
Barudi, ausnahmsweise bei einem „be-
scheidenen Frühstück“. Die einen suchten
Heil im Irrationalen, um sich trotz der eige-
nen Tragödie Hoffnung zu erhalten. Die an-
deren, um ihre innere Leere mit irgendet-
was auszustopfen.
Dass der Aberglaube und die Feind-
schaft der Diktatur gegenüber der Wahr-
heit ziemlich ähnlich funktionieren, er-
kennt Barudi früh. „Sobald Fanatismus die
Seele erobert, verkommt das Wissen zur to-
ten Information“, schreibt er in sein Tage-
buch. Die Konsequenz daraus zieht er erst
am Ende. Er schwänzt die Zeremonie, bei
der er für 46 Jahre eines Dienstes geehrt
werden soll, der nicht im Dienste der Wahr-
heit stehen durfte. Und bleibt mit seiner
neuen Geliebten im Bett. „Du hast Hun-
ger“, bemerkt die bald – denn auch Kom-
missare mit Faible für Macht- und Glau-
bensfragen müssen essen.

Rafik Schami:Die geheime Mission des Kardinals.
Roman. Carl Hanser Verlag, München 2019. 430 Sei-
ten,26 Euro.

Es fängt einigermaßen skurril an: Die Rei-
se aufden Berg Athos, den Berg auf der öst-
lichen der drei Halbinseln des griechi-
schen Chalkidike, den nur Männer betre-
ten dürfen und der bewohnt ist von Mön-
chen, wird uns geschildert von einem, der
sich als gestorben präsentiert. Trotzdem
freut er sich an Düften und an Speisen, hat
Hunger und Gelüste, hat Angst, sich bei
Dunkelheit zu verstolpern, wird von notgei-
len Mönchen vergewaltigt, und genießt
das, weil er dabei eine andere, empfangen-
de Seite seiner Persönlichkeit entdeckt,
wie er notiert.
Er ist auf der Wanderung in ein beseli-
gendes Jenseits und erinnert sich kaum
noch seiner verflossenen irdischen Identi-
täten. Seine Ausführungen reichrt er mit
metaphysischen und transzendentalen Be-
griffen zum Teil eigener Provenienz an.
Formulierungen wie „Das Mysterium der
kaum sichtbaren Pfade“ oder „Das klare
Urlicht“ könnten, wenn einer bei Dunkel-
heit durch den Wald geht, leichthin erfun-
den sein, finden sich aber in frömmelnden
Traktaten. Augiéras spielt mit der Ambiva-
lenz religiöser Begriffe und ihrer Alltags-
verwendung, zum Beispiel wenn ihn „der
göttliche Friede des Abends zusammen
mit der Gegenwart dieser heiligen Alten in
eine tiefe Freude, in eine Art Trunkenheit“
taucht: „Ich war unter die Meinen zurück-
gekehrt!“ Ein Déjà-vu der Seelenwande-
rung, die als ein Aufstieg über Hürden und
Prüfungen zu Erweckung und Ewigkeit
führt, wozu der Berg Athos eine hübsche
Metapher abgibt.
Was dies Buch ausmacht, ist die Fähig-
keit des Autors und seiner Erzählstimme,
erhabene Leichtigkeit zu erzeugen. Erst
entzieht er sich aller Beschreibung, indem
er jedwede Identität abstreitet, dann erlebt
er die Gewalt, die ihm angetan wird, als Hil-
fe zur Selbsterkenntnis, und schließlich
können die moralischen Zornausbrüche
der Mönche, einzige Autoritäten des Ber-
ges, ihn in seiner Abgeklärtheit nur noch
belustigen.

In der Literatur gibt es einige Genies, de-
ren literarische Potenz so gewaltig gewe-
sen ist, dass sie in die Literaturgeschichte
eingegangen sind, statt bloß als Verbre-
cher oder Verrückte abgetan worden zu
sein: François Villon etwa oder Jakob Mi-
chael Reinhold Lenz, in der Moderne Rim-
baud oder Artaud. Andere sind schlicht ver-
gessen, und dazwischen gibt es welche, die
sich an bekannte Persönlichkeiten des Kul-
turbetriebs gewendet haben, um ihre Ar-
beiten begutachten und gegebenenfalls
durch berufenes Lob etablieren zu lassen,
und die dabei das Glück hatten, durch eine
Antwort auf ihre Anfrage überdauert zu ha-
ben. So haben sich Arthur Cravan und eben
François Augiéras an André Gide gewen-
det. Ohne Gides seriöse Manier, auf Briefe
junger unbekannter Autoren einzugehen,
wäre wohl von ihnen keine Rede mehr.
Und, genau, der Verlag wirbt für dies Buch
mit einem Zitat von André Gide, das sich
wohl auf ein vorheriges Werk von Augiéras
bezieht: „Ein bizarres Vergnügen“.
François Augiéras kam 1925 in Roches-
ter, USA, zur Welt und wuchs im Périgord
auf. Der Vater, ein französischer Pianist,
starb vor der Geburt, die Mutter, polni-
schen Ursprungs, schlug sich als Porzellan-
malerin durch. Das Périgord ist berühmt
für seine einst bewohnten Höhlen längs
der Ufer der Dordogne, Lascaux ist die be-
kannteste. Als dieses Buch erschien, im
Jahre 1970, waren die Höhlen von Mátala
gerade berühmt wegen der Hippies, die
dort alternative Lebensformen vorlebten,
was vielleicht einen Anknüpfungspunkt
bietet.
Mit dem Voranschreiten dieser Seelen-
wanderung mehren sich die Begriffe aus
anthroposophischem Gedankengut und
aus dem Weltbild des Tibet-Romans „Das
Dritte Auge“ eines britischen Autors, der
sich den Namen Lobsang Rampa verliehen
hatte und der darin gewissermaßen das
wahre Wesen der Menschheit ausbreitet.
„Das Dritte Auge“ war ein internationaler
Bestseller und wurde, als es 1957 in
Deutschland erschien, auch hierzulande
gerade von anthroposophisch gestimmten
Menschen geschätzt. In Frankreich fand es
Ende der Fünfziger Jahre enorme Reso-
nanz, so dass man einen Einfluss auf Augié-
ras vermuten darf, der zuvor mit einer „Rei-
se der Toten“ aus seiner Zeit als berittener
Dragoner auf Dromedar in Mali und mit Ge-
schichten von homoerotisch und masochis-
tisch gefärbten Aufenthalten in der Sahara
auf sich aufmerksam gemacht hatte.
Identitäten forderten ihn offenbar her-
aus: Er publizierte seine ersten Bücher –
immerhin in den Éditions de Minuit, wo
auch Beckett und Marguerite Duras er-
schienen, unter einem arabischen Namen,
er posierte als Lawrence von Arabien, als
wandernder Weiser, als Priester oder Sek-
tenvertreter.
In dem malerischen Ort Domme über
der Dordogne war er bekannt als extrava-
ganter Höhlenbewohner und empörte hin
und wieder die Bürger. Seine Leser kann er
immerhin irritieren mit seiner Darstellung
eines spirituellen Lebens, das womöglich
mehr zum Glück des Menschen beitragen
könnte als alles andere.
rudolf von bitter

François Augiéras:Eine Reise auf den Berg Athos.
Aus dem Französischen von Dirk Höfer. Mit einem
Nachwortvon Jean Chalon. Verlag Matthes & Seitz
Berlin, 244 Seiten, 28 Euro.

Der kulinarische Detektiv


Wenn der Fanatismus die Seele erobert: Rafik Schamis Kommissar Barudi


ermittelt im Syrien vor dem Bürgerkrieg


Dieses Buch, das es auf die Longlist zum
Deutschen Buchpreis 2019 geschafft hat,
beginnt so: „Ich schalte das Deckenlicht
ein. Auf mehreren Tischen liegen Papier-
stapel und Pergamentrollen ausgebreitet.
Ich rieche Erde, Ei und Pilz, Holzstaub und
altes Tier.“ Noch ist nichts geschehen, noch
weiß keiner, worum es gehen wird, da ist
schon eine Erwartung geschaffen. In der
Folge wird man es nicht nur mit einem
empfindsamen, sondern auch mit einem
schreibwütigen Menschen zu tun haben.
Da beobachtet jemand sich selbst, mit dem
Vorsatz, nicht nur wahrzunehmen, son-
dern sich bei der Wahrnehmung auch zu
beobachten, nicht nur zu empfinden, son-
dern diese Empfindungen auch festzuhal-
ten, in schriftlicher Form.


Ein verbreitetes Missverständnis besagt,
aus der Verbindung von Empfindsamkeit,
Selbstbeobachtung und Schriftlichkeit ge-
he Literatur hervor. Das ist zwar ein Irr-
tum, aber so lässt es sich weiterschreiben,
über viele Seiten hinweg, bis sich, weil alles
ein Ende haben und das Ende rund sein
muss, der Anfang wiederholt: „Ich schalte-
te das Deckenlicht ein und setzte mich an
meinen Arbeitsplatz. Ich roch Erde, Ei und
Pilz.“ Weil aber eine Rezension kein Roman
ist, sei festgehalten, dass solche Anfänge
und Schlüsse in literarischer Hinsicht
nichts Gutes verheißen.
Das Buch „Hier sind Löwen“, in dem
gleich zu Beginn das Deckenlicht einge-
schaltet wird, im Präsens, und das mit dem
Einschalten des Deckenlichts endet, im
Präteritum, ist der dritte Roman der Berli-
ner Schauspielerin und Schriftstellerin Ka-
terina Poladjan. Sein Titel ist eine Refe-
renz, nicht nur auf römische und mittelal-


terliche Karten, in denen die unbekannten
Teile der Welt mit diesem Satz bezeichnet
wurden, sondern auch auf Umberto Ecos
Roman „Der Name der Rose“ aus dem Jahr


  1. Als William von Baskerville, der Held
    dieses Buches, endlich den geheimen Teil
    der Klosterbücherei erreicht, wird er vom
    Bibliothekar darauf hingewiesen, sich jetzt
    in einer Art Jenseits zu befinden: „Hic sunt
    leones.“ Von einer solchen Gegend handelt
    dieses Buch, wobei das Jenseits, in das Ka-
    terina Poladjan ihre Heldin, eine Ich-Erzäh-
    lerin namens Helene reisen lässt, nicht nur
    geografisch, sondern auch spirituell und
    psychologisch bestimmt ist.
    Denn die Berliner Buchrestauratorin
    soll, ausgestattet mit einem deutschen Sti-
    pendium, in Armenien besondere Techni-
    ken der Erhaltung und Wiederherstellung
    historischer Werke erlernen. Wie es sich
    für einen empfindsamen Roman emp-
    fiehlt, ist dieses Armenien zugleich die Hei-
    mat der Ahnen, so dass die Löwen nicht
    nur eine ferne Gegend, sondern auch die
    Tiefen des eigenen Ichs bewohnen.
    Es gibt Berufe, die sich für empfindsa-
    me Romane besonders zu eignen schei-
    nen: Floristinnen gehen eine solchen Ar-
    beit nach, weil man es dabei vermeintlich
    nur mit Gebilden von zarter, überaus ver-
    gänglicher Schönheit zu tun hat. Geigen-
    bauerinnen gehen einer solchen Arbeit
    nach, weil sie mit kleinsten Werkzeugen
    an kostbaren Tönen feilen. Kein Beruf aller-
    dings verfügt über ein so großes Potential
    zur Empfindsamkeit wie die Buchrestaura-
    torin, zumal wenn sie an einer alten Fami-
    lienbibel arbeitet: Wie viele Wunden, wie-
    viel Geschichte werden da repariert, wie-
    viel an imaginärer Wiedergutmachung er-
    fährt die Vergangenheit, wenn die Spuren
    von Vernachlässigung und Gewalt getilgt
    werden, und um wieviel bedeutsamer
    noch wird diese Tätigkeit, wenn sie in Ar-
    menien und an einer armenischen Bibel
    ausgeübt wird, im Innersten einer frühen,


aber märchenhaft entlegenen christlichen
Kultur, die vom Glauben an die Heilige
Schrift zusammengehalten wird, über Jahr-
hunderte von Unterdrückung und Verfol-
gung hinweg. Ein Glück scheint es ange-
sichts von so viel Schicksal zu sein, wenn
Helene, die Restauratorin, zwar Russisch
und Türkisch spricht, aber kein Arme-
nisch: So kann sie angeblich das Heilige an
dieser Schrift gleichsam unverstellt, als rei-
ne Spiritualität, erfahren.

Wenn die Glut des frommen Empfin-
dens dennoch nicht auf den Leser über-
springen will, liegt das nicht daran, dass
sich Spiritualität nicht in Worte fassen lie-
ße. Es liegt daran, dass Katerina Poladjan
über zu viele Wörter verfügt und vor allem:
über die falschen. „Ich betrachtete Vater
und Tochter wie ein Gemälde“, „ich schau-
te aus dem Fenster und zählte die übrigge-
bliebenen Blätter an den kahlen Ästen“,

„ich musste an eine Bluse mit Puffärmeln
denken, die ich als Kind besessen und nie
gemocht hatte“. Es gibt viele solcher Sätze
in diesem Buch, und sie alle erzählen da-
von, wie sich ein empfindsamer Mensch
vor alle Gegenstände und Ereignisse
schiebt, von denen es etwas zu erzählen gä-
be. So entsteht ein Totalitarismus des Ge-
fühls, an dem sich alles bricht, das Politi-
sche, das Historische und das Religiöse.
In diesem Buch stehen Sätze wie: „Alle
Armenier sind traurig. Immer.“ Und keiner
widerspricht. Es gibt Dialoge wie diesen:
„,Was gibt es Schöneres und Wichtigeres
als Bücher?‘ – ,Ein blankgeputztes Ge-
wehr.‘“ Gewiss, so etwas kann in einem Ro-
man stehen, als harter Stoff, als ein Satz,
an dem sich andere Sätze stoßen und der
zu einem Gedanken führt. In diesem Buch
aber dienen solche Sätze als leere Pathos-
formeln, die von einem unablässig vor sich
hin blubbernden Gefühlsgenerator ausge-
stoßen werden.
Eingewoben in die Erzählung von der
Rückkehr der Berliner Buchrestauratorin
in das Land ihrer Ahnen ist eine Hänsel-
und-Gretel-Geschichte, die sich während
des Ersten Weltkriegs zuträgt, in der un-
mittelbaren Folge des von osmanischen
Soldaten verübten Massenmords an den
Armeniern. Ein Geschwisterpaar, ein Mäd-
chen von vierzehn und ein Junge von sechs
Jahren, überlebt das Massaker und zieht
durch das Land, irgendwie dem Meer ent-
gegen. Als einzige Erinnerung an die Fami-
lie wie an das heimatliche Dorf tragen die
Kinder eine Bibel mit sich.
Katerina Poladjan hüllt den Zusammen-
hang in ein wenig poetischen Nebel, viel-
leicht, weil sie bemerkt, dass er, offen aus-
gesprochen, von in Schmalz gemeißelter
Subtilität wäre. Aber verraten muss sie es
doch: Selbstverständlich sind die Kinder
mit eben der Bibel unterwegs, die Helene
in Jerewan restauriert, und selbstverständ-
lich muss Helene die Geschichte dieser Kin-

der rekonstruieren, so wie sie die eigene Fa-
miliengeschichte wiederherstellen muss.
Selig müssen die Zeiten gewesen sein, als
man noch wusste, was Kitsch ist.

Katerina Poladjans Roman „Hier sind
Löwen“ erinnert in mehrfacher Hinsicht
an Fatih Akins missratenen Film „The Cut“
aus dem Jahr 2014, in dem sie selbst eine
Nebenrolle spielte. So völlig befreit von Ge-
schichte und Politik der Regisseur in die-
sem Werk vom Schicksal der Armenier im
frühen zwanzigsten Jahrhundert erzählte,
so erbarmungslos verwandelt Katerina Po-
ladjan dieses Land im Kaukasus, irgendwo
zwischen Europa und Asien gelegen, in ei-
nen Ort der wahren Gefühle.
Und so unverwandt groß- und braunäu-
gig der Held jenes Films durch die Land-
schaften des Schreckens zieht, ohne dass
er dadurch auf irgendeine Weise verändert
würde, so einfühlsam und letztlich charak-
terlos wandert Helene durch das winterli-
che Jerewan und richtet eine alte Bibel her,
die ein Buch des wahren Lebens sein soll,
aber eigentlich nur die Projektionsfläche
eines hemmungslos humanen deutschen
Exotismus ist, mit Erde, Ei und Pilz.
thomas steinfeld

Katerina Poladjan:Hier
sind Löwen. Roman. S.
Fischer Verlag, Frankfurt
am Main 2019.
288 Seiten, 22 Euro.

Die Bibel und das blank geputzte Gewehr


In Katerina Poladjans Roman „Hier sind Löwen“ reist eine empfindsame Buchrestauratorin nach Armenien


Im Tagebuch ist Platz für


die Abschweifungen,


Reflexionen und Wortgirlanden


„Alle Armenier sind traurig.


Immer.“ Und es ist niemand


da, der widerspricht


Dieser Roman verwandelt das
Land im Kaukasus in einen
Ort der wahren Gefühle

Ein bizarres


Vergnügen


François Augiéras’ „Reise auf den
Berg Athos“ neu aufgelegt

Der syrisch-deutsche Schriftsteller und Chemiker Rafik Schami. FOTO: GUNTER GLUECKLICH/LAIF

Katerina Poladjan. FOTO: ANDREAS LABES

Der atheistische Kommissar
hält auch den
Islamismus für Aberglauben

Aberglaube gedeihe am besten
in elenden und
übersättigten Gesellschaften

Im Dorf war der Autor
bekannt als
exzentrischer Höhlenbewohner

(^14) LITERATUR Freitag, 30. August 2019, Nr. 200 DEFGH

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