Süddeutsche Zeitung - 30.08.2019

(Romina) #1
Berlin– Der 18. September sollte ein gro-
ßerTag für Huawei werden. In drei Wo-
chen will das chinesische Unternehmen
sein neues Spitzen-Smartphone Mate 30
in München vorstellen. Doch die Präsenta-
tion könnte zum Trauerspiel werden: Hua-
weis Flaggschiff muss wohl ohne Dienste
von Google auskommen und auf grundle-
gende Bestandteile des Android-Betriebs-
systems verzichten.
Google wird seine Software nicht für
das Mate 30 freigeben. Das betrifft Google-
Apps wie Gmail, Youtube, Chrome und Goo-
gles Kartendienst Maps sowie den Play
Store. Diese Dienste sind sonst auf Andro-
id-Smartphones vorinstalliert. Das Embar-
go der US-Regierung gegen Huawei zwin-
ge Google, dem chinesischen Hersteller die
Unterstützung zu entziehen, bestätigte ein
Sprecher einen Bericht der Nachrichten-
agentur Reuters.

Für Huawei wäre das eine Katastrophe.
In Sachen Hardware mag das Mate 30 das
künftige Topmodell sein – ohne entspre-
chende Software könnte es zum Flop wer-
den. Außerhalb von China sind Smart-
phones ohne Google-Dienste nahezu un-
verkäuflich. Finden die beiden Unterneh-
men nicht schnell eine Lösung, um trotz
der Sanktionen von Donald Trump zusam-
menarbeiten zu können, gibt es nur Verlie-

rer: Huawei, Google – und alle Nutzer, die
sich für das Mate 30 interessieren. „Wenn
die US-Regierung es uns ermöglicht, wer-
den wir weiter mit Android arbeiten“, sagt
ein Huawei-Sprecher. „Wenn nicht, wer-
den wir weiter unser eigenes Betriebssys-
tem entwickeln.“
Im Mai hatte der US-Präsident den Te-
lekommunikations-Notstand ausgerufen
und amerikanischen Unternehmen verbo-
ten, Geschäfte mit Huawei zu machen.
Trump wirft dem Konzern Spionage vor
und unterstellt ihm allzu enge Verbindun-
gen zur chinesischen Regierung. Kurz dar-
auf lockerte Handelsminister Wilbur Ross
aber die Auflagen und erteilte Huawei eine
zeitlich begrenzte Sondererlaubnis. Die
Frist wäre eigentlich am 19. August abge-
laufen, doch am Stichtag gewährten die
USA Huawei weitere 90 Tage Aufschub bis
Mitte November.
Die Ausnahmeregelung gilt allerdings
nur für Geräte, die bereits auf dem Markt
sind. Das Mate 30 ist das erste neue Hua-
wei-Smartphone, seit Trump den Handels-
streit eskalieren ließ. Google darf Huawei
dafür also keine Software verkaufen. Be-
sonders schwer wiegt der Verlust des Play
Store. Damit wird das Mate 30 aus Googles
Ökosystem ausgesperrt. Nutzer können
Apps nicht mehr wie gewohnt installieren
und aktualisieren, sondern müssen alter-
native App-Stores nutzen. Huawei darf
nur noch auf das quelloffene Android
Open Source Project (AOSP) zugreifen. Es
stellt aber nur ein Gerüst dar, das ohne wei-
tere Software nicht funktionsfähig ist.

Dem US-Handelsministerium sollen
Reuters zufolge mehr als 130 Anträge von
Unternehmen vorliegen, die weiter mit
Huawei Geschäfte machen wollen. Bislang
sei keine dieser Lizenzen erteilt worden.
Ob Google ebenfalls eine Ausnahme bean-
tragt hat, ist unklar. Ein Sprecher sagte
nur, dass man weiter mit Huawei zusam-
menarbeiten wolle.

Seit Monaten versucht Huawei, beste-
hende Nutzer und potenzielle Käufer zu be-
ruhigen. 17 aktuelle Geräte würden die
kommende Android-Version 10 erhalten.
„Smartphones und Tablets, die verkauft
wurden, aktuell verkauft werden oder auf
Lager sind, werden weiterhin Sicherheits-
und Softwareupdates erhalten“, so Hua-
wei. Für neue Geräte gilt dieses Verspre-
chen aber eben nicht.
Vor zwei Wochen zitierte Bloomberg aus
einem internen Memo. Der Verbraucher-
Sparte stehe ein „schmerzhafter langer
Marsch“ bevor, schrieb Huawei-Gründer
Ren Zhengfei. Die Unsicherheit schreckt
Nutzer bereits jetzt ab: Im zweiten Quartal
verkaufte Huawei in Europa fast zwei Milli-
onen Smartphones weniger als im Vorjahr,
der Marktanteil sank um mehr als 16 Pro-
zent. Analysten prognostizieren Verluste
im zweistelligen Milliardenbereich.
Um Trumps Sanktionen nicht länger
hilflos ausgesetzt zu sein, arbeitet Huawei
an einem eigenen Betriebssystem, das im
Westen unter dem Namen Harmony OS
vermarktet werden soll. Alle bislang be-
kannten Details deuten jedoch darauf hin,
dass Harmony eher eine Plattform für un-
terschiedliche Gerätekategorien darstellt.
Deshalb ist es unwahrscheinlich, dass Hua-
wei schon in naher Zukunft eine vollwerti-
ge Alternative zu einem ausgefeilten Sys-
tem wie Android anbieten kann. In der Ver-
gangenheit sind Unternehmen wie Mozil-
la, Nokia und Microsoft mit dem Versuch
gescheitert, eigene mobile Betriebssyste-
me zu etablieren. simon hurtz

von harald freiberger
und benedikt müller

München/Düsseldorf –GuidoKerkhoff
ahnt schon, was ihm nächste Woche blüht.
„Die Zugehörigkeit zu einem Index“, sagte
der Thyssenkrupp-Chef kürzlich, „ist deut-
lich nachrangig zu dem, was wir als Aufga-
be vor uns haben.“ Das soll wohl heißen: Ei-
ner der größten und bekanntesten Indus-
triekonzerne Deutschlands hat derzeit grö-
ßere Probleme, als wahrscheinlich aus
dem führenden Aktienindex Dax abzustei-
gen. Eine Prestigefrage bleibt es trotzdem.
Einmal im Jahr überprüft die Deutsche
Börse, welche Firmen die Kriterien für eine
Mitgliedschaft im Dax erfüllen – und wel-
che nicht mehr. Schließlich soll der Leitin-
dex stets die 30 größten börsennotierten
Unternehmen hierzulande umfassen. Am
kommenden Mittwoch ist es wieder so-
weit: Da will die Börse nach Handels-
schluss bekannt geben, wer absteigen
muss und wer nachrücken wird.
Der Dax ist ein Spiegel der deutschen
Wirtschaft. Die bevorstehende Verän-
derung ist auch symptomatisch für den
Wandel in den vergangenen Jahrzehnten:
Alte, traditionsreiche Industrieunterneh-
men sind aus dem Index herausgefallen
und haben Firmen mit neuen Namen aus
modernen Branchen wie Technologie und
Immobilienwirtschaft Platz gemacht(sie-
he Grafik).
Für den Index-Experten Uwe Streich
von der Landesbank Baden-Württemberg
steht fest: „Dass Thyssenkrupp vom Dax
in den M-Dax absteigen wird, ist beschlos-
sene Sache.“ Nur welcher Konzern dafür in
die erste deutsche Börsenliga aufsteigen
wird, sei „selbst kurz vor Torschluss noch
nicht hundertprozentig klar“. Favoriten
sind der Triebwerkshersteller MTU Aero
Engines aus München und der Großver-
mieter Deutsche Wohnen aus Berlin.

Die Kriterien


Entscheidend für die Mitgliedschaft im
Dax sind zwei Kriterien: Für wie viel Geld
haben Investoren in den vergangenen
zwölf Monaten Anteilsscheine der einzel-
nen Firma gekauft (Börsenumsatz)? Und
wie wertvoll war das Unternehmen im
Schnitt der vergangenen vier Wochen an
der Börse (Marktkapitalisierung)? Stichtag
ist der 30. August, also dieser Freitag. Da-
bei zählen nur Aktien, die Anleger frei han-
deln können. Wirksam wird die Entschei-
dung am 23. September, drei Wochen nach
der Bekanntgabe.

Der Absteiger


Thyssenkrupps großes Problem ist der Bör-
senwert: Der Aktienkurs ist in den vergan-
genen zwölf Monaten um fast die Hälfte
eingebrochen. Der Ruhrkonzern ist in sei-
ner heutigen Form vor 20 Jahren entstan-
den, als Thyssen und Krupp fusionierten.
Thyssen war damit ununterbrochen Dax-
Mitglied, seit dessen Einführung 1988.
Der Niedergang an der Börse hat mehre-
re Ursachen, nicht alle sind selbst verschul-
det: Dass weltweit in diesem Jahr weniger
Autos hergestellt werden, etwa wegen der
Handelskonflikte, trifft Thyssenkrupp als
einen der größten Zulieferer hierzulande.
Die Essener stellen Bleche, Federn oder
Lenksysteme für Autos her. Seit Jahren
schon kämpfen zudem die Stahlwerke mit
weltweiten Überkapazitäten; zuletzt stie-
gen die Stahlzölle in den USA und die Kos-
ten für CO2-Emissionsrechte sowie der
Preis des wichtigen Rohstoffs Eisenerz.
Doch sind auch die Befreiungsschläge,
die Thyssenkrupp zuletzt versuchte, kra-
chend gescheitert: Erst wollte der Konzern
seine Stahlwerke in ein Gemeinschaftsun-
ternehmen mit dem Konkurrenten Tata

Steel Europe einbringen; doch die EU ver-
bot die Fusion aus Sorge um den Wettbe-
werb. Dann wollte Vorstandschef Kerkhoff
Thyssenkrupp in zwei eigenständige Fir-
men aufteilen: einen Stahlhersteller und
-händler sowie einen Technologiekonzern,
der Aufzüge, Autoteile und Anlagen ver-
eint. Auch der Plan scheiterte, weil die Esse-
ner zunächst Hunderte Millionen Euro hät-
ten zahlen müssen, vor allem Steuern.
Wegen hoher Schulden können sie sich
das kaum leisten. Thyssenkrupp hatte vor
einem Jahrzehnt mehrere Milliarden Euro
für neue Stahlwerke in Brasilien ausgege-
ben, die aber zu keiner Zeit die Erwartun-
gen erfüllten. In den Folgejahren erwirt-
schaftete der Konzern kaum Gewinne; al-
lein in dem einen Jahr unter Vorstandschef
Kerkhoff musste Thyssenkrupp die Pro-
gnose viermal nach unten korrigieren. Die
Lage ist so ernst, dass Thyssenkrupp das
wertvollste Geschäft mit Aufzügen und
Rolltreppen zum Teil an die Börse bringen
oder gar an Investoren verkaufen will.
Gleichzeitig hat Kerkhoff angekündigt,
dass er jene Geschäfte „auf den Prüfstand“
stelle, die „ohne klare Perspektive dauer-
haft Geld verbrennen und damit Wert ver-
nichten, den andere Bereiche erwirtschaf-
tet haben.“ Doch selbst mit dieser klaren
Kante kann Kerkhoff den Abstieg in die
Börsen-Zweitklassigkeit offensichtlich
nicht mehr verhindern.

Die Aspiranten


Wer rückt nach, wenn Thyssenkrupp den
Dax verlässt? Mit MTU Aero Engines und
Deutsche Wohnen erfüllen zwei Unterneh-
men die Bedingungen. In einer solchen
Patt-Situation würde der Börsenwert zum
„Zünglein an der Waage“, erklärt Streich.
„Und in diesem Kriterium hat die klar bes-
ser platzierte MTU die Nase vorn.“ Es kann
aber auch noch anders kommen. MTU
stellt Triebwerke für Flugzeughersteller
wie Boeing und Airbus her und profitiert
vom Luftfahrt-Boom.
Deutsche Wohnen ist an der Börse über
Jahre aufgestiegen. Sie besitzt rund
165000 Mietwohnungen. Allerdings wird
der politische Druck immer größer. Bei der
Berliner Firma stehen kaum noch Wohnun-
gen leer; sie kann die Mieten vielerorts er-
höhen. Ihre Immobilien gewinnen seit Jah-
ren kräftig an Wert, auch weil viele Anleger
in Zeiten niedriger Zinsen in Wohnungen
investieren. Mit einem Mietendeckel aller-
dings, wie ihn das Land Berlin nun plant,
würden manche Einnahmen der Deutsche
Wohnen in ihrem Heimatmarkt Berlin weg-
brechen. Seitdem der dortige Senat im Ju-
ni die Preisdeckelung beschloss, hat das
Unternehmen an der Börse etwa 30 Pro-
zent an Wert verloren. Dieser Absturz könn-
te die Deutsche Wohnen nun die Mitglied-
schaft im Dax kosten.

Die Anleger


Ein Unternehmen, das in den Dax auf-
steigt, wird von der Öffentlichkeit stärker
beachtet. Tendenziell steigt auch der Akti-
enkurs, vor allem wegen der zunehmend
gefragten Indexfonds (ETF), die den Dax
eins zu eins nachbilden. Die Anbieter von
Dax-ETF werden in der nächsten Woche
Werte des Absteigers verkaufen und jene
des Aufsteigers kaufen. Anleger müssen
sich deshalb auf stärkere Kursschwankun-
gen um den entscheidenden Tag herum
einstellen. Übrigens wird nicht nur der
Dax umgestellt. Aus dem M-Dax für mittel-
große Werte fiel bereits am Donnerstag
der Medienverlag Axel Springer heraus.
Für ihn rückt der IT-Dienstleister Cancom
auf. Dessen freien Platz im S-Dax nimmt
der Immobilienentwickler Instone Real Es-
tate ein. Auch hier gilt: Traditionsunterneh-
men weichen den neuen Branchen.

DEFGH Nr. 200, Freitag, 30. August 2019 HMG 17


von victor gojdka

W


enn Millionen Deutsche kurz vor
der Tagesschau schon den Fern-
seher einschalten, dann sehen
sie unweigerlich Deutschlands vielleicht
bekannteste Anzeigetafel. In derBörse vor
Achtkönnen sie den wilden Lauf des Deut-
schen Aktienindex verfolgen, den die Fi-
nanzer liebevoll Dax nennen. Mal schießt
er wie eine Rakete nach oben, mal düm-
pelt er vor sich hin, mal klettert er mühe-
voll wie ein Bergsteiger mit Sauerstoff-
mangel.
Der Dax? Das ist für viele Deutsche der
Inbegriff des Aktienmarkts. Viele Milliar-
den Euro stecken in speziellen Finanzpa-
pieren, mit denen auch Privatanleger den
Lauf des Leitindex eins zu eins nachzeich-
nen wollen. Sogar Jens Weidmann, der
Chef der Deutschen Bundesbank, hält ein
solches Dax-Papier. Für den Chef der
Deutschen Börse ist der Leitindex gar eine
„Institution“. Doch während die Börsen-
oberen zum 30. Geburtstag des Aktienin-
dex im vergangenen Jahr opulente Tört-
chen verspeisten, müssen Anleger einse-
hen: Für sie ist Deutschlands bekanntes-
ter Aktienkorb eine Katastrophe. Statt fet-
ter Rendite lieferte er in den vergangenen
Jahren eher Magerkost. Internationale In-
dizes haben den deutschen Leitindex
schon lange abgehängt. Leiten? Das tut
der Dax lange nicht mehr – er leidet.


Denn die Liste der herzkranken Unter-
nehmen im deutschen Börsenkorb wird
mit jedem Monat länger. Der Kurs der
Deutschen Bank taumelt von einem Tief
zum nächsten, die Notierungen der Auto-
giganten BMW und Daimler sind schon
seit Jahren im Rückwärtsgang. Der Che-
mieriese Bayer hat sich im Größenwahn
überhoben – und seinen Aktienkurs dabei
nach unten gedrückt. Es scheint, als wer-
de der Deutsche Aktienindex aktuell zer-
rieben zwischen der Misere der Autobran-
che, dem schlechten Management einiger
Unternehmenslenker und einem US-Prä-
sidenten, der die globalen Lieferketten zer-
schlägt.
Die anekdotischen Beispiele weisen auf
einen tieferliegendes Problem des Aktien-
index hin: Die klassischen Industriebran-
chen und sehr exportabhängige Unterneh-
men machen einen Gutteil im Leitindex
aus. Das Schicksal der Dax-Kurve hängt


daher am Faden der Weltwirtschaft. Zieht
sich die globale Wirtschaft einen Schnup-
fen zu, herrscht in der deutschen sogleich
Lungenentzündung – und damit auch im
Dax. Für Anleger kann das sogar doppelt
fatal sein, wenn am Ende nicht nur der ei-
gene Arbeitsplatz am Lauf der deutschen
Exportwirtschaft hängt – sondern auch
das eigene Aktiendepot.
Für viele Anlagegesellschaften hinge-
gen ist es ein Werbeargument: Der Dax sei
ein Abbild der gesamten deutschen Wirt-
schaft, werben sie immer wieder. Und füh-
ren damit Privatanleger wider besseres
Wissen in die Irre. Denn viele Mittelständ-
ler sind gar nicht an der Börse notiert. Und
die sechs größten Firmen im Dax machen
rund die Hälfte des Gewichts im Leitindex
aus. Mit anderen Worten: Sie erdrücken
den Index. An das Schicksal von SAP, Lin-
de, Allianz und Siemens ketten sich Anle-
ger also ganz besonders. Sein Schicksal im
Wesentlichen an nur sechs Aktien bin-
den? Finanzielle Hochseilakrobatik für
Profis. Aber nichts für Privatanleger.
Im internationalen Vergleich kann der
Dax schon lange nicht mehr mithalten.
Auch wenn Deutschland international lan-
ge als Vorzeigeökonomie galt, die Kurse
anderer Aktienindizes sind dem Dax weit
davongeeilt. Während der Dax seit der
Jahrtausendwende um 73 Prozent gestie-
gen ist, hat der amerikanische S&P 500
um 98 Prozent zugelegt – auch, weil dort
Technologiegiganten wie Apple, Micro-
soft und Amazon Schub geben.
Doch dieser beliebte Vergleich ist zu al-
lem Übel noch hochgradig geschönt, denn
Anleger vergleichen so Äpfel mit Birnen.
Was kaum bekannt ist: Die Börsenoberen
in Deutschland pumpen den Dax künst-
lich auf. Anders als in den großen Börsen-
indizes in den USA fließen in den Lauf der
Dax-Kurve schließlich nicht nur die rei-
nen Kurssteigerungen der Unternehmen
ein, sondern auch die Milliardensummen,
die sie an Dividenden alljährlich an die Ak-
tionäre ausschütten.
Wer diese Verzerrung herausrechnet,
stößt auf eine Kurve des Schreckens. Seit
der Jahrtausendwende hat sich der abge-
speckte Dax kaum vom Fleck bewegt. Die-
ser „reine“ Dax notiert heute ungefähr da,
wo er schon vor 20 Jahren stand. Kein gu-
tes Zeichen für einen Index, der „Fieber-
kurve der Wirtschaft“ sein will.
Privatanleger sind gut beraten, wenn
sie, statt Heimatliebe zu beweisen, lieber
fremdgehen. Spezielle Welt-Aktienindi-
zes mit komplizierten Kürzeln wie MSCI
World streuen das Risiko besser. Den Dax
sollten sie lieber meiden.

Ein Original weniger


Das Traditionsunternehmen Thyssenkrupp fliegt nächste Woche höchstwahrscheinlich aus dem Dax.
Das ist symptomatisch dafür, wie sich die deutsche Wirtschaft verändert hat

Peter Altmaier steht mit faustdicken Kopf-
hörermuscheln über den Ohren in einer
Werkshalle, umringt von Kameras. Er
grinst und ruft: „Der Kopfhörer sagt, die
Mittelstandsstrategie ist großartig!“ Der
Werksleiter entgegnet trocken, da müsse
wohl jemand die CD gewechselt haben.
Der Bundeswirtschaftsminister von der
CDU ist in diesen Tagen öffentlichkeits-
wirksam unterwegs zu deutschen Mittel-
ständlern, um für bessere Stimmung zu
sorgen. In der Wedemark bei Hannover
sitzt ein solcher Mittelständler, die Audio-
Experten von Sennheiser. High-end-Kopf-
hörer wie der auf Altmaiers Ohren werden
hier noch per Hand gefertigt. International
bekannt, innovativ, 2800 Jobs weltweit, da-
von knapp die Hälfte in Deutschland. Zwei
Brüder leiten das Unternehmen in dritter
Generation. „Dass wir diese Reise machen,
hat einen Grund“, sagt Altmaier. „Wir wol-
len den Menschen deutlich machen, was
für ihr Glück wichtig ist.“ Schließlich hin-
gen 60 Prozent aller Jobs und 80 Prozent
aller Arbeitsplätze am Mittelstand, vom
Maschinenbauer über den Blumenhändler
bis zum Start-up. „Ohne den Mittelstand
wäre unser Land ein anderes“, schwärmt
Peter Altmaier.
So ungefähr steht es auch in der „Mittel-
standsstrategie“, die er am Donnerstag in
Hannover vorgelegt hat. Das zehnseitige
Papier enthält ein wahres Loblied – und ist
ein Befreiungsschlag für Altmaier. Denn
der Mittelstand hatte den 61-jährigen Saar-
länder zuletzt auch in die tiefste Krise sei-
ner Amtszeit gezogen. Angetreten als eine
Art zweiter Ludwig Erhard, hatte der Mi-
nister sich zunächst vor allem um die In-
dustrie gekümmert, um drohende Auto-
zölle, begehrliche Firmenkäufer aus Chi-
na, die Mega-Fusion der Bahnsparten von
Siemens und Alstom, die später an den EU-
Wettbewerbshütern scheiterte. Möglicher-
weise hätte er die Strategie auch früher
vorlegen können, sagt Altmaier heute.


„Aber es gab einigen Handlungsbedarf in
der Weltwirtschaft.“
Als er im Februar noch vor der Strategie
für den Mittelstand eine für die Industrie
vorlegte, machte der Verband der Familien-
unternehmen seinem Ärger offen Luft.
Selbst Parteifreunde warfen die Frage auf,
ob er der richtige Mann auf dem Posten
des Wirtschaftsministers sei. Bei Altmaier
verstärkte das den Drang, sich und seine
Politik ständig zu rechtfertigen, womit er
sich selbst noch mehr in die Defensive rück-
te. Die vorgelegte Strategie soll ihn nun wie-
der in die Offensive bringen.
Eine eigene Stabsstelle für den Mittel-
stand hat Altmaier dafür unlängst einge-
richtet, fieberhaft hatten seine Leute seit-
her an der Strategie gearbeitet. Steuern, Di-
gitalisierung, Bürokratieabbau: Es soll für
Mittelständler leichter werden, Geld zu ver-
dienen, an Fachkräfte zu kommen, in die
Forschung zu investieren und mit Behör-
den zu kommunizieren. Auf seiner Tour
will er die Vorschläge nun mit Betroffenen
diskutieren. Vor allem aber geht es Altmai-
er um ein Signal: ein klares Ja zum Mittel-
stand. Er selbst spricht von „Wertschät-
zung“. Und all das verfängt.
„Wir haben Ihr Papier auch schon gele-
sen“, sagt Andreas Sennheiser, einer der
beiden Geschäftsführer-Brüder. „Und wir
freuen uns, dass da viele gute Ansätze drin-
stehen.“ Auch Reinhold von Eben-Worlée,
Chef des Familienunternehmer-Verbands
und bisher harscher Kritiker Altmaiers, ge-
rät nun ins Schwärmen. „Altmaiers strate-
gischer Aufschlag sitzt“, lobt er. „Der Minis-
ter hat die Nöte des Mittelstands erkannt.“
Und Altmaier selbst? Der tut all die Kon-
flikte der Vergangenheit ab, als hätten sie
ihm nichts ausgemacht. Er kenne keinen
„angesehenen und geachteten Minister“,
der nicht auch mal in der Kritik stehe, sagt
er. Und aus seinen Kopfhörern, da kommt
in Wahrheit gefühlige Popmusik.
michael bauchmüller

Präsident Trump hat
US-Firmenuntersagt, Geschäfte
mit Huawei zu machen

WIRTSCHAFT


NAHAUFNAHME


„Der Kopfhörer
sagt, die
Mittelstandsstrategie
ist großartig!“
Peter Altmaier
FOTO: DPA

Arbeit bei Thyssenkrupp am Hochofen. FOTO: OH

Das Logo von Huawei prangt an der glä-
sernen Fassade einer Fabrik des Kon-
zerns in Dongguan. FOTO: REUTERS

Wirecard

Merck

SAP

Münchener Rück

Deutsche Telekom

Fresenius Medical Care

Adidas

Deutsche Post

Covestro

Vonovia

Deutsche Börse

Fresenius

Beiersdorf

Deutsche Wohnen?MTU Aero Engines?

Eon

Heidelberg Cement

Infinion

Dax einst und heute


Gründungsmitglieder (1988) Aktuelle Mitglieder


SZ-Grafik; Quelle: Deutsche Börse, eigene Recherche

Finanzen

Unternehmen nach Branche

1) Nebeneinander stehende Unternehmen haben sich nicht automatisch gegenseitig ersetzt, häufig gab es Zwischenschritte
2 ) von 1996 bis 2003 nicht im Dax 3) heute Daimler 4) heute Thyssenkrupp

Allianz

Deutsche Babcock

BASF

Bayer

BMW

Commerzbank

Continental

Daimler-Benz

Degussa

Deutsche Bank

Dresdner Bank

Feldmühle Nobel

Henkel

Hoechst

Hypo-Bank

Karstadt

Kaufhof

Linde

Lufthansa

MAN

Mannesmann

Nixdorf

RWE

Schering

Siemens

Thyssen

Veba

Vereinsbank

Viag

Volkswagen

Industrie Konsum Energie/Logistik/Immobilien Technologie

DEUTSCHER AKTIENINDEX

Riskante Heimatliebe


Auf Wohlfühltour


Wie der Wirtschaftsminister den Mittelstand besänftigen will


Wenn das System fehlt


Huaweis neues Spitzen-Smartphone muss ohne Android auskommen. Schuld ist der Handelskonflikt


Es gibt viel bessere


Möglichkeiten für Anleger


als den Dax

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