Süddeutsche Zeitung - 30.08.2019

(Romina) #1
In Brüssel wird sich mindestens einer freu-
en, dassGiuseppe Conte wohl Ministerprä-
sident bleiben darf: „Ratspräsident Do-
nald Tusk schätzt nicht nur die Beiträge
Contes bei den EU-Gipfeln sehr, sondern
auch die Art und Weise, wie er in der sehr
schwierigen politischen Lage in Italien als
Ministerpräsident agiert“, sagte ein hoch-
rangiger EU-Beamter in der vergangenen
Woche. Die beiden arbeiteten „wirklich ex-
zellent zusammen“. Auch Kommissions-
präsident Jean-Claude Juncker scheint
den Italiener zu schätzen: Er schicke ihm
seine „wärmsten Wünsche“, sagte eine
Sprecherin am Donnerstag.

Neben der Freude über Contes Bleiben
macht sich bei vielen in Brüssel auch eine
gewisse Erleichterung breit, dass Matteo
Salvini der künftigen Regierung nicht
mehr angehören soll. Zu oft hatte der bishe-
rige Innenminister quergeschossen, vor
allem in der Migrationspolitik. DieEleono-
reund dieMare Ioniozeugen davon: priva-
te Seenotrettungsboote, die im Mittelmeer
auf Anlege-Erlaubnis warten. Salvini hatte
solchen Booten in den vergangenen Mona-
ten die Einfahrt verweigert. Am Donners-
tag erlaubte das Innenministerium zumin-
dest Frauen, Kindern und Kranken auf der
italienischenMare Ionio, an Land zu ge-
hen. Die Seenotretter hoffen nun, dass
Rom die Regeln bald für alle lockert – ob-
wohl die Fünf-Sterne-Bewegung Salvinis
Politik oft mitgetragen hatte.
Die neue italienische Regierung nimmt
auch teil an einem Treffen mit einigen we-
nigen EU-Ländern, das am 19. September
auf Malta stattfinden soll, um über den Um-
gang mit Bootsflüchtlingen zu beraten.
Beim vergangenen Innenministertreffen
in Helsinki hatte Salvini noch geunkt, es
sei bemerkenswert, dass Frankreich und
Deutschland eine Lösung für Italien finden
wollten, ohne mit Italien darüber geredet
zu haben. Eine gesamteuropäische Lösung
ist in dieser Frage trotzdem nicht in Sicht.
Zu groß sind die Vorbehalte auch in ande-
ren EU-Staaten: „Wie Migranten in der
Europäischen Union verteilt werden, sollte
nicht davon abhängen, mit was für einem
Verkehrsmittel die Menschen die EU errei-
chen“, sagt ein Diplomat.
Durch den Regierungswechsel in Italien
dürfte auch die Frage nach der Zukunft der
Mittelmeer-Operation „Sophia“ neu ge-
stellt werden. Als die Mission gegen krimi-
nelle Schleuser noch mit Booten im Mittel-
meer unterwegs war, schickte das italieni-
sche Kommando die Boote in Seegebiete,
in denen überhaupt keine Schmuggler un-
terwegs waren, um zu verhindern, dass
aus Seenot gerettete Menschen automa-
tisch nach Italien gebracht würden, beklag-
te sich Ursula von der Leyen, damals noch
als Verteidigungsministerin. Das aktuelle
Mandat für die Mission läuft Ende Septem-
ber aus. Die Diskussionen zur Fortsetzung
sollen in der kommenden Woche begin-
nen, sagte die EU-Außenbeauftragte Fede-
rica Mogherini am Donnerstag in Helsinki.
Auf eine andere Frage wollte Mogherini,
selbst Italienerin, am Donnerstag nicht ant-
worten: Ob sie möglicherweise als Kommis-
sarin in Brüssel bleibt. Italien ist das einzi-
ge Land, das Ursula von der Leyen noch kei-
nen Kandidaten für das Amt vorgeschla-
gen hat. karoline meta beisel

von oliver meiler

A


lles saß mal wieder perfekt, der An-
zug, das weiße Einstecktuch mit den
Zacken, auch die nachgefärbte Haar-
strähne war gebändigt. Giuseppe Contes
Auftritte sind sich so ähnlich, so kompakt
in der Gesamterscheinung, dass man mei-
nen könnte, er übe sie vor dem Spiegel.
Selbst im Moment seiner politischen Erz-
weihe leistete er sich keine Frivolität, kein
Lächeln der Genugtuung etwa, nicht ein-
mal einen Hauch davon. Conte durchmaß
den Hof des Quirinalspalasts steif wie ein
wandelndes Protokoll, nahm den Regie-
rungsauftrag entgegen, den Staatspräsi-
dent Sergio Mattarella für ihn bereithielt,
und versprach, sein neues Kabinett, das in
den kommenden Tagen entstehen soll,
werde Italien politisch stabilisieren, mo-
dernisieren und wirtschaftlich wettbe-
werbsfähiger machen.


Dieses unaufgeregte Bild des alten und
wohl auch neuen Premiers, es illustriert
den vorläufigen Epilog einer schier unfass-
baren römischen Sommergeschichte. Im
italienischen Kalender ist der August der
Monat des heiligen Stillstands, zelebriert
wie ein unverrückbares Ritual. Alles ruht,
die Politik sowieso. So war das immer, so
wird es hoffentlich bald wieder sein.
August 2019 aber war anders, weil ein
Mann allein, Matteo Salvini, den Moment
gerade für opportun hielt, für sich nach der
ganzen Macht zu greifen, oder wie er es
nannte: nach „allen Vollmachten“ – und da-
mit spektakulär scheiterte. Die gesamte
italienische Machtgeometrie hat dieser Au-
gust verändert. Alle politischen Gleichge-
wichte wurden so sehr verschoben, wie
man das vor drei Wochen für unmöglich ge-
halten hätte. Und Conte steht mitten im
neuen Gefüge, ein neuer Conte, er soll es ge-
stalten.


Vor etwas mehr als einem Jahr wunder-
ten sich die Italiener über diesen fein ge-
kleideten, jungenhaften Mittfünfziger aus
Apulien, Rechtsprofessor und Anwalt, den
man ihnen als neuen Premier des populisti-
schen Kabinetts aus Cinque Stelle und Le-
ga vorstellte. Conte war bis dahin derma-
ßen unbekannt, dass man auch Mattarella
zuerst einen Lebenslauf schicken ließ. Es
zirkulierte eine pompöse Vita, mit reich-
lich Forschungseinträgen an ausländi-
schen Universitäten. Aber so wurde seine
Berufung aus dem Nichts nun mal gerecht-
fertigt: ein Mann mit Meriten. Wie ein No-
tar sollte er über die Einhaltung des Koaliti-
onsvertrags wachen.
Er selbst nannte sich „Anwalt des Vol-
kes“ – und wurde lange verhöhnt. Als Vize
seiner beiden Vizepremiers, von Salvini
und Luigi Di Maio, dem Chef der Cinque
Stelle. Als „Puppe“, als „halber Premier“,
als „Signor Sì“, als Ja-Sager also, als „Pro-
fessorchen aus der Provinz“. Salvini und Di
Maio schickten ihn zu den internationalen
Gipfeln, die ihnen, den Tribunen daheim,
nicht so wichtig waren. Conte bewegte sich
auch auf den Bühnen der Welt wie immer:
kompakt, unaufgeregt.
In einer Kaffeepause beim Weltwirt-
schaftsforum in Davos flüsterte er Angela
Merkel zu, sie müsse die römischen Popu-

listen nicht allzu ernst nehmen, das sei viel
Theater. Jemand filmte die Szene. Für Do-
nald Trump war „Giuseppi“, wie er ihn die-
ser Tage in einem Tweet nannte, bald der
richtige Premier für Italien. Das mag für
die meisten Politiker im Westen ein zweifel-
haftes Sponsoring sein. In Rom aber ärger-
te sich Salvini, dass Trump ihm offenbar
den Hampelmann vorzieht. Conte hatte im
Ausland schon einen Namen, da belächelte
man ihn in Italien noch. Beim G-7-Gipfel in
Biarritz machten die Mächtigen klar, dass
sie ihn zu ihrem Kreis zählten.
Conte ist nun Politiker, durch und
durch. Seine Rede im Senat, diese Abkanze-
lung Salvinis, mit dem er immerhin mehr
als ein Jahr regiert hatte, still und dienstfer-
tig – sie bescherte ihm in Rekordzeit ein
völlig neues Image. Fünfzig Minuten reich-
ten für die Metamorphose. 14 Millionen Ita-
liener schauten zu, so viele wie sonst nur
bei Fußballspielen der Nationalmann-
schaft. Und das an einem Augustnachmit-
tag, zur Strandzeit. Vielleicht wird man die-
se Rede einmal zu den wichtigsten der jün-
geren italienischen Geschichte zählen.
Nicht weil sie besonders gut gewesen wäre,
das war sie nicht. Sondern weil sie den Red-
ner so plötzlich groß machte und die
Machtverhältnisse im Land auf den Kopf
stellte.

Nun wird Conte, der in seiner ersten Ver-
sion einem rechten bis ultrarechten Kabi-
nett vorsaß, eine linke Regierung formen,
mit linken Ministern, linken Inhalten und
einer größtenteils linken Mehrheit im Par-
lament. Mitmachen wollen auch „Liberi e
Uguali“, die Linkspartei von ganz links au-
ßen. Geht das? Selbst für Italien, Land des
Transformismus, ist Contes Operation ein
Novum. Die Italiener aber meinen mehr-
heitlich: Ja, das geht.

Conte wählte früher links, wie er gerne
erzählt. Bei den Cinque Stelle, die er nun
auch offiziell vertritt, gibt es einen progres-
siven und grünen Flügel, der zuletzt etwas
untergegangen war. Dieser Flügel siegte
nun über die „Falken“, die sich gegen eine
Allianz mit den Sozialdemokraten sperr-
ten. Auch Di Maio war mal Falke. Neben Sal-
vini ist er großer Verlierer dieser Sommer-
krise. Eine Zeitung nannte ihn „Salvinis
Waisen“, so eng scheinen beider Schicksale
verknüpft zu sein. Nun sucht man einen
Posten für ihn, ein Trostpflaster.
Conte bricht mit dem klassischen Bild
des unerfahrenen, antikonformistischen
Fünf-Sterne-Politikers. Er wirkt gar wie
ein idealtypischer Vertreter jener Kaste,
die die Bewegung einst zum Teufel wünsch-
te. Die katholische Kirchenhierarchie mag
ihn, die Industriellen schätzen ihn, sogar
die Intellektuellen tun es. Und im Volk ist
nur Mattarella noch beliebter als Conte. Ir-
gendwann, so merkten auch die Sozialde-
mokraten, gab es keinen Weg mehr vorbei
am verwandelten „Professörchen“.
Zu den großen Gewinnern gehören auch
jene beiden Herrschaften, die im zentralen
Moment aus ihrer Versenkung stiegen und
die Koalition der alten Rivalen überhaupt
möglich machten. Zunächst Matteo Renzi.
Der frühere Premier und Sekretär des Par-
tito Democratico, heute einfacher Senator,
führte dafür einen staunenswerten Rück-

wärtssalto vor. Bis zu Salvinis Augustmanö-
ver hatte Renzi die Cinque Stelle immer „ci-
altroni“ gerufen: Strolche, Nichtsnutze.
Doch als er erkannte, dass er „den ande-
ren Matteo“ bremsen kann, operierte er ei-
ne radikale Wende. Für das Wohl des Lan-
des, wie er versicherte. Er räume dafür
auch alle persönlichen Ressentiments aus
dem Weg. Mag sein, dass das Pathos etwas
dick aufgetragen war. Doch die Rechnung
ging auf. Im Parlament sind viele Sozialde-
mokraten „Renzianer“, sie hören auf ihn.
Mit seinem schnellen Streich konnte er
auch den neuen Sekretär der Partei, seinen
internen Rivalen Nicola Zingaretti, zu ei-
ner Allianz bewegen – oder sollte man sa-
gen: zwingen? Zingaretti hätte Neuwahlen
vorgezogen. Renzi ist also zurück, feixend
und triumphierend. Ohne seine Unterstüt-
zung überlebt die neue Regierung nicht.
Fast ebenso erstaunlich wie die Umkehr
Renzis war jene Beppe Grillos, nur einen
halben Tag danach. Der Gründer und soge-
nannte Garant der Cinque Stelle konnte
die Sozialdemokraten noch nie leiden, nun
öffnete er sich ihnen mit einer unmöglich
gewähnten Vehemenz. Lasse die Partei
jetzt Neuwahlen zu, schrieb er in seinem
Blog, so etwas wie die Bibel der Bewegung,
sei das politischer Selbstmord. „Und wir
sind schließlich keine Kamikaze.“ Grillo
hatte davor oft beteuert, er schaue nur
noch aus der Ferne auf seine Kreatur. Die
Jungen, Di Maio & Co., seien groß genug,
um sich alleine durchzuschlagen.
Nun holte er sich die Partei zurück, mit
einem Ruck. Offenbar setzte er sich gegen
Davide Casaleggio durch, den Sohn des Mit-
gründers und Chef der Mailänder Internet-
firma Casaleggio Associati, über die alle Ak-
tivitäten der Partei laufen. Dem wäre eine
Fortsetzung mit der Lega lieber gewesen.
Grillo war es auch, der mit Herz für Contes
Bestätigung warb, für Conte II. Dabei kann
man sich unterschiedlichere Welten kaum
vorstellen als die des zuweilen irrlichtern-
den Komikers aus Genua und jene des
förmlichen Anwalts aus Apulien. Der ver-
spottete Conte ist jetzt der Retter, geboren
in einem ungewöhnlichen August.

Hören Sie zu diesem Thema
auchden Podcast.
 sz.de/nachrichtenpodcast

Über die Mittelmeer-Operation
„Sophia“ soll neu beraten werden

(^2) THEMA DES TAGES Freitag,30. August 2019, Nr. 200 DEFGH
Matteo Salvini wollte „alle
Vollmachten“, wie er sich
ausdrückte. Das ging daneben
Die Verwandlung
Sie verhöhnten ihn als Signor Sì und als Professorchen aus der Provinz. Das war gestern. Inzwischen ist Premier Giuseppe Conte
der einzige Politiker geworden, dem die Mehrheit der Italiener zutraut, das Land vor dem Absturz ins politische Chaos zu bewahren
Steif wie das wandelnde Protokoll: Giuseppe Conte am Donnerstagmorgen vor dem Quirinalspalast, wo ihm Italiens Präsident den neuen Regierungsauftrag erteilte. FOTO: FRANCESCO AMMENDOLA/REUTERS
„Wirklich
exzellent“
Bei der EU hofft man auf deutlich
bessere Zusammenarbeit mit Rom
Der bemerkenswerte
Salto rückwärts
des Matteo Renzi
Senat
Südtiroler Volkspartei SZ-Grafik; Quelle: Senato della Repubblica, Camera dei Deputati
Absolute Mehrheit
ab 161 Sitzen
Absolute Mehrheit
ab 316 Sitzen
320 Sitze
178 Sitze
630 Sitze
Fünf
Sterne
107
Sozial-
demokraten
51
SVP
und
andere Autonomie-
vertreter 8
Linkspartei 4
Linksliberale 8
Fünf 355 Sitze
Sterne
216
Sozial-
demokraten
111
Linksliberale 14
Linkspartei 14
Die neue Mehrheit
Abgeordneten-
haus
Conte, ein Mann für alle FälleNachdemer bisher einem rechten bis ultrarechten Kabinett vorsaß, soll derselbe Premierminister
nun eine linke Regierung formen, mit linken Ministern, linken Inhalten und einer linken Mehrheit im Parlament.
Eine solche Volte gab es noch nie in Italiens auch sonst eher turbulenten Politik. Und noch ist offen, ob die Operation tatsächlich gelingt
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